Das Rätsel um den Formstand

Das Potenzial ist da, doch die Leistungen schwanken zuletzt. In Deutschland zählt man die eigene Mannschaft seit langem nicht mehr zu den grossen Turnierfavoriten.

Hansi Flick vor seinem ersten Grossturnier als Bundestrainer © KEYSTONE/EPA/FRIEDEMANN VOGEL

Wie schnell im Fussball die Stimmung wechseln kann, ist längst bekannt. Auch in Deutschland war dies einmal mehr zu beobachten. Im Juni wurde eine Mannschaft von der Öffentlichkeit gefeiert, die in der Nations League soeben gegen Europameister Italien ein Offensivfeuerwerk gezündet und einen 5:2-Sieg gefeiert hatte. Nach dem nächsten Zusammenzug drei Monate später war alles anders. Deutschland hatte gegen Ungarn 0:1 verloren und beim 3:3 gegen England einen 2:0-Vorsprung verspielt.

"Rätselhafter Sowohl-als-auch-Abend", fasste die "Süddeutsche Zeitung" zusammen, während "Die Zeit" härter mit dem Team ins Gericht ging und titelte: "Das also soll guter Fussball sein". Es sind Schlagzeilen, die zeigen, dass man in Deutschland weit weg von einer WM-Euphorie ist. Der Tenor ist: Der Mannschaft ist einiges zuzutrauen, zu den grossen Turnierfavoriten gehört sie jedoch nach langer Zeit nicht mehr.

Die Einschätzung basiert auch auf den letzten zwei enttäuschenden Auftritten an Grossturnieren. An der WM 2018 scheiterten die Deutschen nach Niederlagen gegen Mexiko und Südkorea in der Gruppenphase. An der EM 2021 erreichte das Team mit einem Sieg zwar die Achtelfinals, in denen es gegen den späteren Finalisten England jedoch klar unterlegen war.

Flick mit grossem Leistungsausweis

Nach dieser EM endete die 15-jährige Ära von Jogi Löw, der das Team 2014 zum insgesamt vierten WM-Titel geführt hatte. Mit Hansi Flick wurde ein Nachfolger engagiert, der als Löws Assistent an diesem Grosserfolg mitbeteiligt war. Danach zog er sich eine Weile aus dem Trainergeschäft zurück, wurde erst Sportdirektor beim Deutschen Fussballbund (DFB) und später Geschäftsführer bei der TSG Hoffenheim.

Sein Comeback an der Seitenlinie gab er 2019 beim FC Bayern München und gewann in seiner ersten Saison gleich alles, was es zu gewinnen gab. Mit dem historischen "Sextuple" (Meisterschaft, Cup, Supercup, Champions League, UEFA-Super-Cup, FIFA-Klub-WM) war die Grundlage für die Rückkehr ins Nationalteam geschaffen. Flick, der auch als Spieler viermal Deutscher Meister wurde, verkörpert Grosserfolge wie kaum ein anderer.

Als Bundestrainer begann Flick mit sechs Siegen in Serie und übertraf somit den Rekord seines Vorgängers, der mit fünf Erfolgen gestartet war. Doch seither sind mehr Unentschieden als Siege hinzugekommen. Der 57-Jährige sah sich wegen "Aufstellungsexperimenten" auch schon Kritik ausgesetzt. Die WM in Katar wird seine erste Bewährungsprobe.

Der Bayern-Block als Erfolgsbasis

Dafür setzt Flick in erster Linie auf seine ehemaligen Bayern-Schützlinge. Mit Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Serge Gnabry, Leroy Sané, Thomas Müller und Jamal Musiala kommen sieben Spieler im Kader vom Rekordmeister. Zentrale Rollen inne haben Neuer als Captain und Kimmich als Chef im Mittelfeld. In der Offensive dürften Gnabry und Sané wichtige Pfeiler sein, während Müller langsam vom 19-jährigen Toptalent Musiala abgelöst wird.

Der Bayern-Block wird durch Leistungsträger wie Kai Havertz, Ilkay Gündogan oder Niklas Süle ergänzt. Ausfälle wie die von Timo Werner oder Marco Reus schmerzen zwar ein wenig, können jedoch problemlos kompensiert werden. Auf dem Papier hat Deutschland erneut ein Team, das allen Nationen gefährlich werden kann. Entscheidend wird sein - wie meistens bei solchen Turnieren -, ob die Spieler miteinander harmonieren.

Die Gruppe mit Spanien, Japan und Costa Rica birgt ein gewisses Stolperpotenzial. Trotzdem darf Deutschland mit dem Einzug in die K.o.-Phase rechnen. Und dann? Gerade weil die Erwartungshaltung tiefer als in vergangenen Jahren ist, könnte Deutschland befreiter aufspielen und plötzlich in einen Rausch verfallen. Wie zuletzt gegen Italien - oder sogar wie bei der WM-Endrunde 2014.

SDA
...