News für unsere Region.

"Es ist eine Art Therapie, viel darüber zu sprechen"

Sozialarbeiter Maxime Gilliéron und Genesungsbegleiter Wendelin Kappeler sprechen über psychische Erkrankungen.

Sozialarbeiter Maxime Gilliéron (links) und Genesungsbegleiter Wendelin Kappeler (rechts). © RadioFr.

Maxime Gilliéron ist Sozialarbeiter bei der freiburgischen Inte­ressengemeinschaft für Sozialpsychiatrie (AFAAP). Der Verein ist im Kanton Freiburg in Deutsch und Französisch tätig und befasst sich mit den sozialen Ursachen und Folgen von psychischen Störungen. "Wir arbeiten mit unseren Mitgliedern, die von psychischen Problemen betroffen sind, auf einer sozialen Ebene", erklärt Maxime. Es sei eine Ergänzung zum medizinischen Bereich, der sich vor allem um die Krankheit an sich kümmere.

"Grosse Momente, die Stress auslösen können"

Soziale Ursachen von psychischen Erkrankungen sind beispielsweise Überforderung bei der Arbeit, Stress mit der Familie, Scheidung, Geburt.

Der Verein begleitet Betroffene, damit sie sich wieder in die Gesellschaft integrieren können. "Die betroffene Person hat vielleicht keinen Kontakt mehr mit der Familie oder dem Freundeskreis und möchte wieder Fuss fassen in der Gesellschaft."

Ablauf und Angebot der AFAAP

Betroffene melden sich telefonisch oder persönlich, oftmals auf Empfehlung von ärztlichem Personal, Psychologin oder Psychiater bei der AFAAP. Bei einem Gespräch werden die Bedürfnisse abgeklärt. Zum Angebot der AFAAP gehört die Begleitung durch Sozialarbeitende, um konkrete Anliegen oder Fragen zu besprechen. Ausserdem werden unter der Woche regelmässig kreative Nachmittagsaktivitäten angeboten wie Malen, Basteln und Gesprächsgruppen. Ziel ist es, die Mitglieder des Vereins miteinander in Kontakt zu bringen. Ausserdem gibt es Gesprächsgruppen für Angehörige.

Trialogische Gesprächsgruppen

Wendelin Kappeler ist Genesungsbegleiter ("Peerarbeiter"). Er kommt ursprünglich aus Alterswil und war selbst betroffen von einer psychischen Krankheit. Er hat regelmässig sogenannte Trialog-Veranstaltungen besucht, an denen sich Betroffene, Angehörige und Fachpersonen zum Austausch treffen. "Es hat mir geholfen, über meine Krankheit zu sprechen und die ersten Schritte zu machen", sagt Wendelin heute.

Engagement und Zweisprachigkeit

Dort hat er auch die AFAAP kennengelernt, wo er und seine Schwester bereits seit 8 Jahren Mitglieder sind. Während seine Schwester regelmässig die Angehörigengesprächsgruppen besucht, macht Wendelin an verschiedenen Ateliers mit und engagiert sich; wie kürzlich beim 30-Jahre-Jubiläum.

Der Verein sei eine gute Sache und die Zweisprachigkeit werde vorbildlich gelebt. "Manche andere Organisation im Kanton Freiburg könnte sich eine Scheibe abschneiden."

Ausblick Kunstausstellung

Am 13. Oktober 2022 findet die Vernissage der Kunstausstellung rund um individuelle und gemeinschaftliche Erfahrungsberichte von betroffenen Personen statt. Vom 7. bis 24. Oktober 2022 kann die Ausstellung vor dem Theater Equilibre besichtigt werden.

Genesungsbegleitung und Recovery-Gruppe

"Peers" sind Personen, welche selbst von einer psychischen Krankheit betroffen waren, genesen sind und sich nun als Beraterinnen und Berater um Menschen mit psychischen Problemen kümmern.

Man fühlt sich von niemandem so gut verstanden, wie von einer Person, die dasselbe durchgemacht hat.

Wendelin arbeitet bei den Psychiatrischen Diensten Solothurn auf der Station Angst und Despression. Dort leitet er eine sogenannte Recovery-Gruppe, eine offene Gesprächsgruppe. "Es geht darum, mit den Patientinnen und Patienten während einer Stunde über gewisse Themen zu sprechen, wie zum Beispiel Akzeptanz. So kann Erfahrungswissen abgeholt und mit den anderen geteilt werden, damit man merkt, man ist nicht allein."

"Man kann nicht einfach sofort darüber sprechen"

Bei der Visite ist Wendelin auf der Station, wenn alle Patientinnen und Patienten anwesend sind und hat Zeit für Einzelgespräche und Beziehungsaufbau. Zuerst müsse eine Ebene geschaffen werden, damit Vertrauen da ist. "Das gelingt mir schneller als Fachpersonen, da ich auch Sachen von mir und meiner Geschichte preisgeben kann." So entstehe Nähe und Vertrauen.

Aufsuchende Sozialarbeit

Zusätzlich ist Wendelin bei der Psychiatriespitex Aare-Bielersee in einem Pilotprojekt tätig, wo er Klientinnen und Klienten regelmässig zu Hause besucht und mit ihnen eine Stunde spricht. Dabei geht es um die Begleitung im Alltag nach dem Austritt, wo es wichtig ist, dass die Betroffenen gut versorgt sind und sprechen können. "Bei vielen ist das Thema Einsamkeit sehr gross." Das Angebot beinhaltet Gespräche und Erfahrungswissen, es werden Fragen besprochen wie: Wie Fuss fassen nach Klinikaustritt? Was kann helfen? Wie geht man mit Medikamenten um? Wie kann man die Krankheit als Teil von sich akzeptieren?

"Es reicht nicht, selbst betroffen gewesen zu sein"

Wendelin hat im letzten Jahr die EX-IN Ausbildung zum Peerarbeiter gemacht, wo er sich viel Wissen aneignen konnte - im Austausch mit anderen Kursteilnehmenden auch über andere Diagnosen, wie beispielsweise Essstörungen. Dass man selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen war, ist Voraussetzung für die Ausbildung. "Danach muss man sich bewerben. Es ist schwierig, an die Ausbildung zu kommen. In meinem Fall gab es 70 Bewerbungen für 20 Plätze."

Die Kandidatinnen und Kandidaten müssen genesen sein. "Das heisst nicht, dass man symptomfrei ist, sondern einen guten Umgang mit der Krankheit gelernt hat. Man muss belastbar sein, da man die Probleme der anderen mit nach Hause nimmt". In vielfältigen Klassen wird die einjährige Ausbildung, aufgeteilt in zwölf Module plus Praktika, absolviert.

"Es ist eine Art Therapie, viel darüber zu sprechen"

Hat Wendelin keine Angst hat, selbst wieder rückfällig zu werden? "Je mehr ich darüber spreche, desto mehr nimmt es dem die Kraft und desto besser kann ich damit umgehen", antwortet er. Er selbst hatte nie einen Peer bei seinen stationären Aufenthalten in Marsens. "Ich war jung und es hätte mir enorm geholfen und Hoffnung gegeben". In anderen Kantonen seien Peers viel mehr eingegliedert in den Kliniken. Das Pilotprojekt vom Netzwerk Gesundheit Schweiz hat zum Ziel, dass Peerarbeit zukünftig über die Krankenkasse abgerechnet werden kann.

RadioFr. - Anne Moser / nschn / iwi
...