"Es macht mich stolz"
Perfektes Saisonende für Audrey Werro - in Bellinzona hat die 20-jährige Freiburgerin über 800 m einen neuen Schweizer Rekord aufgestellt.
Audrey Werro und Bellinzona, das passt. Ein Jahr, nachdem sie in der Tessiner Hauptstadt die Olympialimite geknackt hatte (1:58,13), sorgte Audrey Werro beim prestigeträchtigen Meeting Gala dei Castelli erneut für einen Exploit. Die 20-jährige Freiburgerin kürte sich zur schnellsten Schweizerin über 800 m. In 1:57,76 gestoppt, unterbot die Athletin vom CA Belfaux den bisherigen Schweizer Rekord von Selina Rutz-Büchel aus dem Jahr 2015 um 19 Hundertstelsekunden. "Ich mag es, in Bellinzona zu laufen", sagt die junge Frau aus Courtepin. "Das Stadio Communale ist ein eher kleines Stadion, da fühle ich mich weniger unter Druck als in grossen Arenen. Zudem sind die Zuschauer nahe dran und das Teilnehmerfeld ist erstklassig."
Dass die Bahn in Bellinzona besonders schnell ist und gute Zeiten begünstigt, so wie es ihr oftmals nachgesagt wird, kann Werro indes nicht bestätigen. "Vielleicht kann eine Bahn über 100 m einen Einfluss haben, aber über 800 m kaum. Ich spüre jedenfalls nie einen Unterschied. Es ist schlicht die wunderbare Atmosphäre in Bellinzona, die einen beflügelt."
Erste Freiburger Rekordhalterin überhaupt
Wie aussergewöhnlich Werros Leistung ist, sieht man daran, dass sie als erste Freiburger Leichtathletin überhaupt einen Schweizer Rekord aufgestellt hat. Bei den Männern haben schon Läufer aus einem Freiburger Verein die nationale Bestenliste angeführt, aber auch bei ihnen ist das schon 70 Jahre her. Yves Jeannotat (CA Freiburg, 30 km) und Pierre Page (CA Freiburg, 5000 m und 3000 m Steeple) waren in den 50er-Jahren die Schnellsten gewesen. Auch Jean-Marc Wyss (CA Freiburg, 50 m / 1978) und dem nach wie vor zweifachen Rekordhalter Pascal Mancini (FSG Estavayer, 50 m / 60 m) ist dieses Kunststück gelungen, allerdings in der Halle.
Werro war bereits vor einem Jahr in Bellinzona dem nationalen Rekord bis auf zwei Zehntel nahegekommen, nun hat sie ihn unterboten. "Damals war der Rekord noch so weit weg und kein ernsthaftes Thema. Diese Saison war es jedoch mein Ziel, ihn zu unterbieten. Es geschafft zu haben, ist eine schöne Belohnung für die unzähligen Trainingsstunden und zeigt mir, dass wir gute Arbeit machen", freut sich die schnelle Freiburgerin am Tag nach ihrem Exploit und einer kurzen Nacht.
Bereits nach dem Meeting ist sie nach Hause gefahren, musste wegen des gesperrten Gotthardtunnels den Umweg über den Pass nehmen, und kam erst morgens um 4 Uhr zu Hause in Courtepin an. "Als ich gegen Mittag aufgewacht bin, hatte ich über 60 Text- und Sprachnachrichten auf meinem Natel", erzählt die 20-Jährige mit einem Lachen.
Abgeklärtes Rennen
Die neue Schweizer Bestmarke von Werro kann sich auch international sehen lassen. In diesem Jahr sind nur 20 Athletinnen die beiden Bahnrunden schneller gelaufen. Eine davon ist Rénelle Lamote (1:57,06), die in Bellinzona ebenfalls am Start war. Obwohl man erwartet hatte, dass die Französin dem Rennen den Stempel aufdrücken würde, war es Audrey Werro, die das Feld kontrollierte.
Bei Hälfte der Strecke hatte sie sich hinter der Amerikanerin Addison Wiley eingereiht. "Ich fühlte nach 400 m, dass wir sehr schnell unterwegs waren. Der Rhythmus war gut, ich musste aber geduldig sein und nicht zu früh beschleunigen." In der zweiten Runde drückte die Freiburgerin auf der Gegengeraden mit ihren langen Schritten aufs Gaspedal. In der letzten Kurve setzte sie sich dann ab, kam als Führende auf die Zielgerade und kämpfte sich über die Ziellinie.
"Als ich im Ziel die Zeit auf der Anzeige leuchten sah, wusste ich sofort, dass ich einen Rekord aufgestellt habe", erzählt die Ausnahmeläuferin des CA Belfaux. Zuerst habe 1:57,79 gestanden, dann sei die Zeit auf 76 gesenkt worden. "Ich war erleichtert, denn ich wusste, dass dies das letzte Rennen des Jahres und meine letzte Chance war, mein Ziel zu erreichen. Zu wissen, dass noch niemand so schnell war wie ich, macht mich stolz."
Geglückte Revanche
Mit dem Rekord nimmt die Saison von Audrey Werro doch noch ein glückliches Ende. Am letzten Donnerstag hatte es für die zweifache U20-Europameisterin bei Weltklasse Zürich noch eine Enttäuschung abgesetzt, als sie mit der Zeit von 2:06,17 den letzten Platz belegte und ergänzt:
Zürich war ein Tag zum Vergessen, meine Beine wollten überhaupt
So habe sie die Saison nicht beenden wollen. "Ich wusste, dass ich in Form bin und wollte es nochmals allen beweisen." Die Revanche hatte schöner nicht ausfallen können. Ihr Saisonaufbau war darauf ausgelegt, im August bei den Olympischen Spielen das Toplevel zu erreichen. Doch eine Verletzung des Hamstrings im linken Oberschenkel machte ihr einen Strich durch die Planung. Die Rückkehr ins Wettkampfgeschehen einen Monat vor Beginn der Spiele stellte sich im Nachhinein als zu spät heraus.
In Paris zwackte es Werro immer noch leicht im Oberschenkel, weshalb sie mit einem Tape und einem unsicheren Gefühl laufen musste. "Ich war enttäuscht, dass ich es nicht in die Halbfinals geschafft habe", blickt sie zurück. Es seien ihre ersten Spiele gewesen, vieles neu und ungewohnt, sodass sie sich etwas gestresst gefühlt habe. "Es war kein einfaches Jahr mit der Verletzung. Aber bei Olympia dabei gewesen zu sein und jetzt auch noch den Schweizer Rekord aufgestellt zu haben, das überwiegt alles und macht mich stolz und glücklich", zieht Werro eine positive Saisonbilanz.
Schon nahe an der Weltspitze
Hätte die Seebezirklerin beim Diamond-League-Meeting in Zürich die gleiche Zeit in die Bahn gelegt wie in Bellinzona, wäre sie Zweite geworden. Und bei den Olympischen Spielen wäre sie auf Rang 5 gelaufen. "Auch wenn man die Zeiten nicht so einfach miteinander vergleichen kann, so zeigt es doch, dass ich schon nahe an der Weltspitze bin", sagt sie. "Das motiviert, hart weiterzuarbeiten."
Vorerst stehen aber Ferien an. "Allerdings nur Trainingsferien, keine Schulferien", betont die 20-Jährige mit einem Schmunzeln. Am Mittwoch wird sie zurück im Kollegium Gambach erwartet, wo sie dieses Jahr den Abschluss machen wird. "Den Trainingsbetrieb werde ich voraussichtlich in zwei, drei Wochen wieder aufnehmen." Wann sie das erste Rennen bestreiten wird, weiss sie noch nicht. So oder so wird bei ihrer Rückkehr auf die Bahn alles ein bisschen anders sein als bisher. Denn als Schweizer Rekordhalterin wird sie fortan die Gejagte sein. "Das ist ok, ich werde einfach versuchen, so weiterzulaufen wie bisher."