"Es ist eine Krise der Geduld"

Der Physiker und Populärwissenschaftler Etienne Klein hat in Freiburg einen Vortrag über sein neues Buch gehalten. Ein Interview.

Etienne Klein kam nach Freiburg, um sein neues Buch "Court-circuit"vorzustellen. © Frapp

RadioFr.: Sie sind Physiker am Kommissariat für Atomenergie und alternative Energien CEA in Frankreich. 2023 haben Sie ein neues Buch mit dem Titel "Court-circuit" (Kurzschluss) herausgebracht. Warum dieser Titel?

Etienne Klein: Ich wollte Begriffe, die im Alltag nicht miteinander in Verbindung gebracht werden, einander näher bringen und das Ergebnis beobachten. Obwohl das meistens nichts bringt, konnte ich zehn Verbindungen finden, die zu einem konkreten Gedanken führen. Sie erzeugen wie ein Funke einen Denkanstoss, den ich als "Kurzschluss" definiere.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

Ursprünglich hatte ich gar nicht die Idee, ein Buch zu schreiben, aber leider habe ich vor zwei Jahren meinen älteren Bruder verloren. Ich schrieb eine Art Trauerrede für ihn und merkte erst viel später, dass es sich um einen Kurzschluss zwischen verschiedenen Formen der Intelligenz handelte. Er war im Konkreten, während ich eher im Abstrakten war. Und so kam eins zum anderen, die Verbindungen wurden natürlich geknüpft und es entstand ein Buch über andere Kurzschlüsse, die ich finden konnte.

Haben Sie das Gefühl, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft abgenommen hat?

Ich bin mir nicht sicher, vor allem, weil man Wissenschaft auf so viele verschiedene Arten interpretieren kann. Sprechen wir über die Aussagen von Wissenschaftlern, über Wissenschaft als Erkenntnisprozess oder über ein theoretisches Objekt, das uns bei der Lösung von Problemen hilft? Abgesehen von den Definitionen geht es mir darum, die beste Art und Weise zu finden, die Wissenschaft - in diesem Fall die Physik - zu "erklären". Denn was sie uns lehrt, lässt sich nicht in Worte fassen. Man muss das Gesagte also übersetzen, und das braucht Zeit. Doch diese Zeit ist schwer zu finden. In diesem Fall könnten wir eher von einer Krise der Geduld sprechen. Infolgedessen befürchte ich, dass wir zu einer Gesellschaft der Affekte werden, die eher reagiert als reflektiert.

Wie ist es zu erklären, dass es immer mehr "Pseudowissenschaften" und sogar "Anti-Wissenschafts-Bewegungen" gibt, obwohl die Menschheit noch nie so viel Zugang zu Informationen hatte wie heute?

Wir kommen auf das zurück, was Nietzsche 1878 in seinem Buch "Menschlich, allzu menschlich" vorhersagte. Er behauptete, dass bei dem Tempo, mit dem die Dinge voranschreiten, der Geschmack an der Wahrheit in dem Masse verschwinden würde, wie die Wahrheit weniger Vergnügen garantiere. Da wir heute Zugang zu Informationen aller Art haben, sei es durch Kommentare oder Posts in sozialen Netzwerken, hören wir alles und das Gegenteil davon. Unser Gehirn kann mit einer solchen Flut nicht umgehen. Es neigt dazu, Dinge für wahr zu erklären, von denen es glaubt, dass sie wahr sind, ohne sich die Mühe zu machen, die Quelle zu überprüfen. Wir fallen in eine Form der Subjektivität, die unsere Art und Weise, Informationen zu empfangen, beeinflusst.

Ist das das Hauptproblem der sozialen Netzwerke?

Ja, und auch das der KI. In einer Demokratie ist Wissen eine öffentliche Angelegenheit. Damit eine Demokratie funktionieren kann, braucht sie die Idee der Wahrheit in dem Sinn, dass wir uns nicht auf ihre Einzigartigkeit, sondern auf ihren Wert einigen müssen. Wenn sie jedoch zur Meinung degradiert wird, fürchte ich um die demokratische Debatte. Denn wenn es keinen gemeinsamen Bezugspunkt mehr gibt, werden sich kleine, selbstzentrierte Gesellschaften bilden, in denen Feindseligkeit und Gewalt gegenüber anderen herrschen. Denken bedeutet, Nein zu unserem Denken zu sagen, Sichtweisen und Kritik zu berücksichtigen, denn sonst schliessen wir uns in schädlichen Glaubenskreisen ein.

Wenn Sie ein so komplexes Gebiet wie die Physik populärwissenschaftlich präsentieren, haben Sie dann nicht Angst, dass der Zuschauer es falsch interpretiert?

Natürlich sind wir nie Herr über eine Botschaft. Um dies zu erreichen, muss man an der Sprache und der Genauigkeit arbeiten. Es gibt kein Patentrezept, aber ich denke, es ist wichtig, dass wir uns um die Allgemeinverständlichkeit bemühen, auch wenn es nicht perfekt ist.

Bemühen Sie sich so sehr, weil Sie das Gefühl haben, die Physik erklären zu müssen?

Ich habe mit einem intellektuellen Ansatz begonnen, um die Konzepte zu erklären, denen man im Alltag begegnet, egal ob man sich dafür interessiert oder nicht. Dann kam Covid und die Unwissenheit der Leute führte dazu, dass ich einen politischen Ansatz verfolgte, da es hier eine grosse Baustelle gibt. Meiner Meinung nach haben wir in dieser Zeit eine historische Gelegenheit verpasst, Aufklärungsarbeit zu leisten.

Frapp - Théo Charrière
...