Ein lang vorbereiteter Krieg

Seit Donnerstagmorgen greifen die russischen Streitkräfte die Ukraine an. Die Einordnung einer Expertin und einer Freiburg-Ukrainerin.

In der Schweiz demonstrierten in den letzten Tagen hunderte Menschen gegen die Invasion der Ukraine. © KEYSTONE

Am Montag anerkannte der russische Präsident Wladimir Putin die ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten. Dass Russland kurz darauf die ganze Ukraine angriff, überraschte zahlreiche Expertinnen und Experten, so auch Dr. Carmen Scheide, Dozentin für Osteuropastudien an der Universität Bern. "Ich bin davon ausgegangen, dass Putin den Osten der Ukraine bis zur Krim einnimmt." Das wäre für ihn strategisch vorteilhaft. Mit einer Bombardierung aller grossen Städte und einem Angriff auf die Westukraine habe sie nicht gerechnet.

Im Minutentakt erreichen uns Meldungen von Angriffen in der ganzen Ukraine - die russischen Truppen sind über grosse Teile des Nachbarlandes verteilt. Das deutet darauf hin, dass auch die ukrainische Armee vom Angriff überrascht wurde. Carmen Scheide vermutet, dass die Ukrainer nur an den vorherigen Kontaktlinien vorbereitet gewesen sind. Dass sie auch die grossen Städte verteidigen müssten, hätten sie wohl kaum erwartet. Laut der Expertin dürften gewaltbereite Kreise in der Ukraine erbitterten Widerstand leisten. "Wir müssen uns in den nächsten Tagen und Wochen auf bürgerkriegsähnliche Bilder der Gewalt einstellen."

Zivilisten als Opfer

Die Situation für die Bevölkerung ist dramatisch. Die Freiburgerin Nina Guillet stammt aus der Stadt Cherson im Süden der Ukraine. Sie steht permanent mit Familienmitgliedern in Kontakt. "Meine Angehörigen und Freundinnen haben erzählt, dass sie Explosionen gehört haben." Sie habe vernommen, dass der Flughafen in ihrer Heimatstadt zerstört wurde. Die Menschen wüssten nicht, was sie tun sollen. "Alle bleiben zu Hause und haben Angst", sagt Guillet.

Auch Carmen Scheide kennt viele Menschen in der Ukraine. "Es gibt Fluchtbewegungen, die Leute rennen in die Apotheke, in die Supermärkte und fahren zu den Tankstellen, um sich so viele Vorräte wie möglich zu besorgen." Alle seien geschockt. Eine Forschungskollegin von ihr aus der Ukraine versucht, ihre Familie bei der Flucht zu unterstützen.

Ein bestimmter Zeitpunkt

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat komplexe historische und politische Ursachen. Scheide sieht drei Gründe, weshalb der Angriff gerade jetzt begann. "Vor den Olympischen Spielen war Putin in China. Ich glaube, er hat versprochen, während den Spielen nichts zu machen." Zudem seien gewisse Wetterbedingungen für den Einsatz von Panzern notwendig. Sobald der Boden schlammig wird, kommen sie nicht mehr voran. Schliesslich habe Putin wohl auch den Regierungswechsel in Deutschland abgewartet. "Meines Erachtens hat er das von langer Hand vorbereitet."

Ein Hinweis dafür ist die Berichterstattung der russischen Medien. Seit Monaten heizen sie die Stimmung im Land auf. "Es gab immer dieses Narrativ, wonach in der Ukraine Russen verfolgt werden und es einen Genozid gibt." Laut den russischen Medien sind in der Ukraine Faschisten an der Macht. Damit versuchen sie, den Angriff zu legitimieren. Aber selbst in Russland glauben nicht alle diesen Berichten. Seit Donnerstag kommt es auch dort zu Protesten gegen den Krieg mit der Ukraine.

Auch Siegfried Weichlein, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, geht davon aus, dass der Angriff auf die Ukraine von langer Hand geplant wurde und die Ukraine für Putin ein entscheidender Baustein seines ideologischen Konstrukts ist. Valentin Brügger hat mit Prof. Weichlein unter anderem über die Antizipierbarkeit des Krieges gesprochen:

RadioFr. - Valentin Brügger / pef / rb
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