Das Niveau steigt und steigt
Nina Christen und Chiara Leone nehmen mit dem Kleinkaliber-Gewehr die Scheiben ins Visier. Sofern sie nach einer Medaille greifen wollen, müssen sie noch genauer schiessen als Christen 2021 in Tokio.
Die Werte werden sich nicht direkt vergleichen lassen: Zum einen hat der Modus von 3x40 auf 3x20 Schuss in der Qualifikation geändert, zum andern nimmt über 50 m der Wind Einfluss. Wie im Biathlon orientieren sich die Schützinnen an den Windfähnchen, müssen bei Böen auch mal warten oder bei ruhigen Verhältnissen Gas geben.
Im geschlossenen Luftgewehr-Raum vom vergangenen Wochenende in Châteauroux, in dem Audrey Gogniat Bronze gewann, zeigte sich aber unverfälscht, wie sich das Niveau im Schiesssport der Frauen angehoben hat. Die 628,5 Punkte in der Qualifikation von Tokio für die Olympiasiegerin Nina Christen (geteilter 7. Rang) hätten bei Paris 2024 noch zum 16. Rang gereicht. In Tokio lag der Cut bei 628,5 Zählern, in Paris bei 631,9 Punkten.
Zahlreiche Puzzle-Teile
3,4 Punkte Differenz auf 60 Schuss, das ist viel. Und diese Differenz entsteht aus einer Summe von Details. Nachfolgend eine Auswahl dieser Puzzle-Teile.
"Im Schiessen kann man sich viel erarbeiten. Es braucht nicht wie bei einem 100-m-Läufer primär die richtigen Gene", sagt Swiss-Shooting-Trainer Enrico Friedemann. Arbeit heisst für den Deutschen, rund 54'000 Schuss pro Jahr abgeben. "Allein für das braucht man schon rund 180 Tage zu drei bis sechs Stunden." Und er ergänzt: "Dann kommt das Mentaltraining hinzu, das Neuroathletische, die Athletik, das Psychologische und wichtig, auch die Regeneration."
Friedemann erzählt von den Luftgewehr-Meisterschaften in Indien. "Die dauern zwei Wochen mit rund 7000 Startern. Da finden sich immer mehr solche, die sehr gut schiessen können." Und in China, einer anderen Grossnation, dürfte es kaum anders sein. Da es körperlich nicht auf sehr spezifische Fähigkeiten ankommt, steht das Schiessen vielen offen. Insbesondere aus dem asiatischen Raum stossen immer jüngere Asse an die Spitze vor.
Christoph Dürr, der am Mittwoch im Dreistellungs-Match mit dem Kleinkaliber-Gewehr in der Qualifikation hängen blieb, erwähnt ein weiteres Detail. "Im Materialbereich wird alles präziser. Früher reichte eine Schiessjacke für ein, zwei Jahre, jetzt wird nach einer halben Saison gewechselt, weil die Stabilität des Materials leicht nachlässt." Nina Christen weist auf Änderungen beim Gewehr hin. "Ich habe beispielsweise heute mehrere Optionen in der Auswahl der Munition."
Neuer Modus
Im Vergleich zu Tokio hat sich nicht nur das Niveau angehoben, sondern der Dreistellungs-Match erhält auch eine andere Charakteristik. "Bei 3x20 ist eine Neun doppelt so schlimm", sagt Nina Christen. Bei 120 Schuss habe man sich noch eine Baisse erlauben können, jetzt gehe das nicht mehr.
Friedemann sagt dazu: "Neu ist es ein 100-m-Lauf statt ein 400-m-Lauf. Du musst dich mental neu ordnen, weil ein schlechter Start kaum mehr aufgeholt werden kann." Andererseits seien die Chancen für Aussenseiter etwas grösser geworden. "Bei 120 Schuss haben sich die Besten letztlich immer durchgesetzt, jetzt sind die Finalteilnehmer breiter gestreut, weil sich die Spreu weniger vom Weizen trennt."
Nina Christen und Chiara Leone haben sich intern in einem engen Kampf gegen das erst 15-jährige Schiesstalent Emely Jäggi durchgesetzt und schiessen am Donnerstag kniend, liegend und stehend. Die Olympiasiegerin aus Nidwalden und die Europameistern aus dem Fricktal wollen beweisen, dass auch die Schweiz das Niveau erhöht und den Modus-Wechsel adaptiert hat.