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"..., dass man nicht als Simulant abgestempelt wird"

Mit sieben Jahren hat sich die Flamatterin Anne Marie Grebasch mit Kinderlähmung infiziert. Ein Gespräch über ihr Leben, zum 85. Jubiläum der Vereinigung der Gelähmten.

Anne Marie Grebasch in ihrem Haus in Wünnewil. Mit sieben Jahren hat sie sich 1953 noch vor der Impfung mit der Polio Krankheit angesteckt. © zVg

Wenn wir über die Polio-Krankheit sprechen, dann denken wir oft an unsere Grosseltern. Die "Kinderlähmung" ist nämlich dank einer sehr effizienten Impfung seit Ende der 1950er Jahren kontrolliert und praktisch ausgerottet worden. Das Glück, von der Impfung zu profitieren, hatte Anne Marie Grebasch aus Wünnewil nicht. 

Die Epidemie 1953 im Dorf

In einem kleinen Dorf im Sankt-Galler Rheintal bricht 1953 eine Polio-Epidemie aus, rund zehn Kinder seien damals betroffen gewesen. Anne Marie Grebasch und ihr Bruder haben sich damals auch infiziert. Sie erinnert sich:

Angefangen hat es wie eine Grippe, dann konnte ich plötzlich nicht mehr stehen.

Sofort wurden sie ins Spital gebracht, wo sie als sieben-jähriges Mädchen, während vier Monaten meist im Isolationszimmer verbracht hat. Die Mutter sah sie nur durch eine Scheibe, es sei hart gewesen. Die Lähmungen legen sich zwar ein bisschen, doch im rechten Bein bleibt die Muskulatur und die Nervenstränge für das ganze Leben angeschlagen.

Erfülltes Berufs- und Familienleben

Das ist aber kein Grund für Anne Marie Grebasch ihr Leben nicht zu leben. Im Gespräch mit ihr merkt man zwar, dass die Krankheit einige unschöne Erinnerungen hervorbringen, doch zu lange mag sie nicht darüber sprechen. Sie unterstreicht zu Recht, sie habe drei Kinder und habe ihr Berufsleben gut ausleben können. Ihre Familie hatte eine Drogerie, welche sie übernommen hatte. Als sie in den 1970er Jahren ins Senseland kam, fing sie in Flamatt als Drogistin an zu arbeiten. Nach einem Wechsel nach Düdingen hat sie selbst nach der Pensionierung noch weitergearbeitet. Wirklich etwas von ihrer Kinderlähmung gemerkt, haben nur wenige:

Die Leute haben immer gestaunt, als ich meine Kinderlähmung angesprochen habe. Sie realisierten nicht, dass ich etwas hinke. Nur beim Treppensteigen merkte man es.

Heute merkt Anne Marie am rechten Bein ihre Einschränkung aber recht stark, sie braucht den Rolator um zu gehen. Die Muskulatur und Nervenstruktur sind stark eingeschränkt.

Bei Poliofällen können die Lähmungen an unterschiedlichen Körperstellen und auch verschieden stark auftretten. Im Gegensatz zu querschnittgelähmten Personen, welche an der gelähmten Stelle keinen Schmerz mehr spüren, empfinden Polio-Betroffene Wärme, Kälte und Schmerz, auch wenn sie die gelähmte Stelle nicht mehr bewegen können. 

Die Impfung als Opfer des eigenen Erfolgs?

Der Bruder von Anne Marie Gerbasch erholte sich schnell von den Lähmungen in den Beinen. Erst viele Jahre später traten wieder Symptome auf. Und dieses Phänomen ist allgemein ein Problem, sagt der Zentralsekretär der schweizerischen Vereinigung der Gelähmten, Mario Corpataux:

Es gibt viele Leute, die damals infiziert wurden, aber nichts gespürt haben. Das kann im Schnitt 35 Jahre später zu neuen Lähmungen führen.

Dieses Bewusstsein müsse bei Personen, welche Poliofälle in der Familie hatten, noch stärker bewusst werden.

Dank der sehr effizienten und laut Mario Corpataux empfehlenswerten Impfung gegen Polio, ist die Krankheit bereits seit Ende der 1950er Jahren bekämpft worden. Der letzte Fall von Kinderlähmung in der Schweiz wurde 1989 verzeichnet. Auch deshalb sei sie bei der Ärzteschaft in den Hintergrund gerückt. Sowohl Corpataux als auch Grebasch unterstreichen, dass es zu wenig Wissen im Bereich gäbe: Die Personen mit Polio leben und es gibt mehr als man vermuten würde. Sie müssen in der Physiotherapie, Ergotherapie und von der medizinischen Behandlung der Krankheit angepasst behandelt werden. Anne Marie Grebasch wünscht sich, dass die Kinderlähmungen ernster genommen werden und Betroffene nicht als Simulanten abgestempelt werden. 

Problempunkte Migration und sinkende Impfrate

Hinter der guten Nachricht, dass die Polio-Krankheit in der Schweiz als besiegt gilt, versteckt sich aber auch eine neue Gefahr. Besonders in den Ländern Pakistan und Afghanistan sei die Krankheit noch endemisch, also konstant präsent. Sie verbreitet sich durch die sogenannte Schmierinfektion, das Virus vermehrt sich im Darm. Viele Betroffene merken das Poliovirus nicht, sodass Flüchtlingsströme das Virus wieder in die Schweiz tragen. Mario Corpataux von der Vereinigung der Gelähmten ist deshalb besorgt:

Diese Viren kommen in die Schweiz! Es gibt Landstriche in der Schweiz, die eine zu tiefe Impfrate haben.

Zum Beispiel das Luzerner Hinterland oder auch die Region Appenzell seien mit rund 70 Prozent Impfrate weit unter den benötigten 95 Prozent, welche für eine erfolgreiche Bekämpfung der Krankheit nötig wären. 

1500 Tulpen in der Stadt Freiburg

All diese Informationen sollen in der Stadt Freiburg auf dem Pythonplatz am Samstagmorgen ausgetauscht werden. Es ist ein symbolisches Fest mit 1500 Polio-Tulpen, bei dem man das 85. Jubiläum der schweizerischen Vereinigung der Gelähmten, welche den Hauptsitz in Freiburg hat, feiern wird. Dort soll man sich mit betroffenen Personen austauschen können. Ein Anliegen, das auch Anne Marie Gerbasch teilt. 

Das ganze Gespräch mit der Anne Marie Grebasch, welche von der Kinderlähmung betroffen ist, finden Sie untenstehend.

RadioFr. - Renato Forni
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