Fast alles spricht für die Schweiz
England gegen Schweiz ist auch Yakin gegen Southgate, Xhaka gegen Rice und Sommer gegen Pickford.
Heute Abend um 18 Uhr kommts zum Knüllermatch: Die Schweiz spielt den EM-Viertelfinal gegen England. Der Vergleich der Schlüsselpositionen erhärtet den Schluss: Die Schweiz muss sich nicht verstecken.
Yakin vs. Southgate
Vor dem Beginn der EM gab es zwischen Murat Yakin und Gareth Southgate Parallelen. Beide standen aufgrund der Leistungen in den letzten Monaten in der Kritik und unter besonderer Beobachtung. Dann verlief die Entwicklung in entgegengesetzte Richtung.
Yakin und sein Staff um Assistent Giorgio Contini überraschten mit cleveren taktischen Schachzügen, und praktisch jeder Kniff ging auf. Michel Aebischer gehört plötzlich zu den Leistungsträgern, Dan Ndoye, Ruben Vargas und Breel Embolo haben die Zweifel an der Offensive zusammen mit den weiteren Torschützen Xherdan Shaqiri, Remo Freuler und Aebischer ausgeräumt. Die Schwäche mit den späten Gegentoren aus der durchwachsenen Qualifikation wurde behoben.
Bei den Engländern wuchs die Skepsis am Trainer weiter. Southgate scheut auch in seinem achten Jahr als Nationalcoach jegliches Risiko und hielt bislang starr an seinem Stammpersonal und seiner Ausrichtung fest. Nach wie vor ist kein klares Konzept zu erkennen, nach wie vor wirft der Kontrast zwischen Potenzial sowie Leistungen und Spielweise Fragen auf.
Aber nach wie vor sprechen die nackten Resultate nicht gegen Southgate: Die Vorstösse in den EM-Final 2021, den WM-Halbfinal 2018 und WM-Viertelfinal 2022 sowie der Schnitt von 2,08 Punkten pro Spiel und die Aussicht auf den EM-Titel 2024 nach vier von sieben möglichen Spielen sind in der Tat kein schlechter Leistungsausweis.
Xhaka vs. Rice
Granit Xhaka ist wie eh und je der Dreh- und Angelpunkt im Schweizer Team. Der Regisseur von Bayer Leverkusen ist der Metronom, der die Fäden zieht, das Spiel steuert und die Kommandos gibt. Er stopft Löcher, kittet Offensive und Defensive, gibt der Mannschaft mit seiner Ballsicherheit und dem Auge fürs Positionsspiel Stabilität - und stärkt nunmehr als soziales Bindeglied den Zusammenhalt neben dem Platz.
Declan Rice ist Xhakas Nachfolger bei Arsenal. Auf Klubebene spielte der 25-jährige defensive Mittelfeldspieler eine Top-Saison, aber im Nationalteam ist sein Einfluss geringer. Sein erster EM-Match gegen Serbien (1:0) war gut, im weiteren Verlauf war er erstaunlich unauffällig und wenig eingebunden.
Sommer vs. Pickford
Yann Sommer im Fernduell mit Jordan Pickford - der Punkt beim Goalie-Vergleich geht an die Schweiz. Zwar könnte Sommer im Nationalteam demnächst von Gregor Kobel abgelöst werden, doch an den Qualitäten der langjährigen Schweizer Nummer 1 liegt das nicht. Sommer ist auch an der EM der gewohnte Rückhalt und Ruhepol. Pickford hat erst zwei Gegentore erhalten, wirkte aber unruhig und offenbarte unter Druck Unsicherheiten.
Sommer wechselte nach dem unglücklichen temporären Gastspiel bei Bayern München nach Italien zu Inter Mailand und trug dort das Seine zum überlegenen Meistertitel und der schwer zu knackenden Abwehr bei. Nur 22 Gegentore kassierte Inter in den 38 Ligaspielen. Pickford spielte mit Everton auch wegen eines empfindlichen Punktabzugs zwischenzeitlich gegen den Abstieg und beendete die Saison im 15. Rang. Gemessen an den Noten war Englands Nationalkeeper der drittbeste Torhüter der Premier-League-Saison, das Interesse der grossen Klubs blieb weiter aus.
Für Pickford spricht lediglich, dass England im laufenden Turnier erst zwei Tore kassiert hat. Ein Verdienst, das mehr der defensiven Spielweise als einem überragenden Torhüter geschuldet ist.
Akanji vs. Kane, Stones vs. Embolo
Die beiden Abwehrchefs Manuel Akanji und John Stones spielen beide bei Manchester City und sind in ihrem Nationalteam unumstritten. Akanji verkörpert seit dem Wechsel von Borussia Dortmund zur Mannschaft von Trainer Pep Guardiola auch im Nationaldress in aller Regelmässigkeit Weltklasse, Stones profitiert bei den Three Lions von der Risiko-Minimierung unter Trainer Gareth Southgate, konnte gewisse Abstimmungsprobleme mit seinen Nebenleuten aber nicht immer kaschieren.
Stones und Co. müssen das heissgelaufene Schweizer Kollektiv um Breel Embolo stoppen. Akanji und Co. Kane und dessen hochkarätige Vorarbeiter Bukayo Saka und Phil Foden auf den Flügeln, die bislang wie Fremdkörper mit blockierter Handbremse wirkten. Erst ein Tor hat Kane im bisherigen Turnierverlauf erzielt. Der Siegtreffer zum 2:1 in der Verlängerung gegen die Slowakei zeigte aber: Ergibt sich die Chance, ist Kane auch dann zur Stelle, wenn er zuvor praktisch unsichtbar war.
Künstler Bellingham vs. Künstler Shaqiri
Jude Bellingham und Xherdan Shaqiri sind die Spieler für die besonderen Momente. Bellingham traf bislang zweimal im Turnier, das zweite Mal im Achtelfinal mit einem wunderschönen Fallrückzieher in der 95. Minute zum so wichtigen 1:1 gegen die Slowakei.
Im Zuge seines starken Einstands bei Real Madrid rückte Bellingham im Nationalteam auf die Zehnerposition hinter dem designierten Vollstrecker vor. Doch richtig funktionieren wollte das in den EM-Spielen in Deutschland (noch?) nicht. Vielmehr geriet der ungemein selbstbewusste 21-Jährige durch sein Auftreten in die Kritik. "Er ist natürlich ein herausragender Spieler, er muss nur insgesamt aufpassen, dass er jetzt nicht anfängt, Allüren zu bekommen in ganz jungem Alter. Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, der sagt: 'Boah, manchmal nervt er'", meinte etwa ZDF-Experte Christoph Kramer.
Bei der Schweiz galt Xherdan Shaqiri vor wenigen Wochen noch als unverzichtbar für die Offensive. Das stellte sich als Trugschluss heraus: Nur einmal, beim 1:1 gegen Schottland, kam der 32-jährige, nicht austrainierte Zauberfuss zum Einsatz - und erzielte dabei standesgemäss ein Traumtor.
Schweizer Kollektiv vs. Englands Einzelkönner
Am Ende kommt es auf das Kollektiv an, heisst es allenthalben. Hierzu lässt sich nach je vier EM-Auftritten festhalten: England ist eine Ansammlung von Individualisten, die Schweiz eine Mannschaft. England hat die wertvollsten Einzelspieler, aber die Schweiz hat das bessere Kollektiv. Kein Grund also, sich am Samstag in Düsseldorf vor dem englischen Starensemble zu verstecken.