Kommt Weinstein am Ende frei?
Die MeToo-Bewegung hatte das harte Urteil für Harvey Weinstein wegen Sexualverbrechen im März 2020 mit Jubel und Erleichterung aufgenommen.
Der frühere Filmmogul war von einem New Yorker Richter wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu 23 Jahren Haft verurteilt worden. "Ich glaub', ich werd' verrückt", kommentierte die Gründerin der Bewegung, Tarana Burke (50), damals die hohe Strafe. Auch am Donnerstag meldete sich die Aktivistin zu Wort, nachdem ein Berufungsgericht in New York die historische Verurteilung des ehemaligen Filmmoguls überraschend aufgehoben hatte. Sie sei tief bestürzt für die betroffenen Frauen, sagte Burke auf einer Pressekonferenz. Aber dies sei kein Schlag für die Bewegung, sondern ein "Weckruf" zum Handeln, fügte sie kämpferisch hinzu.
Auch Schauspielerin Ashley Judd (56), die 2017 in einem investigativen Artikel der "New York Times" mit anderen Frauen erstmals öffentlich den Missbrauch durch Weinstein geschildert hatte, rief zur Fortsetzung des Kampfes gegen sexuelle Gewalt auf. Bezüglich der Entscheidung des Berufungsgerichtes sprach sie davon, dass diese "unfair gegenüber den Opfern" sei. "Wir leben immer noch in unserer Wahrheit. Und wir wissen, was passiert ist." Die von Dutzenden Frauen erhobenen Missbrauchsvorwürfe gegen Weinstein brachten 2017 die weltweite MeToo-Bewegung ins Rollen.
Die Entscheidung der sieben Richter in New York fiel mit 4:3 denkbar knapp aus. Grund für die Aufhebung des historischen Urteils ist demnach ein Verfahrensfehler: Die Anklage stützte sich damals im Prozess auch auf Zeugenaussagen, die nicht Teil der Anklage waren. "Wir kommen zu dem Schluss, dass das erstinstanzliche Gericht fälschlicherweise Zeugenaussagen über nicht zur Anklage gebrachte, mutmassliche frühere sexuelle Handlungen gegen andere Personen als die Kläger der zugrunde liegenden Straftaten zugelassen hat", schrieb der Vorsitz der Gerichtskammer und bescheinigte dem damaligen Richter James Burke schwere Verfahrensfehler.
Weinstein und sein Anwaltsteam feierten das spektakuläre Urteil. Nach Aussage seines Anwalts Arthur Aidala sei Weinstein "sehr dankbar", berichtete die "New York Times". Der 72-Jährige sitzt in einem Gefängnis im Norden des US-Bundesstaates New York ein. Aidala zufolge soll sein Mandant nun näher an die Metropole verlegt werden. Er könne zurück vor Gericht kommen und seine Sicht der Dinge darlegen: "Er brennt darauf, seine Geschichte vom ersten Tag an zu erzählen." Aidala betonte, sein Team habe von Anfang an "gewusst, dass Weinstein keinen fairen Prozess bekommen hat".
Eine Freilassung Weinsteins steht vorerst nicht an. In einem zweiten Strafprozess in Los Angeles, in dem es ebenfalls um Sexualverbrechen ging, war er 2023 zu weiteren 16 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Doch das Urteil in New York gibt seinem Anwaltsteam Aufwind, auch an der US-Westküste in Berufung zu gehen. Anwältin Jennifer Bonjean könnte bereits Mitte Mai vor einem Berufungsgericht in Kalifornien einen entsprechenden Antrag stellen, berichtete "Variety".
Die Staatsanwaltschaft in Los Angeles zeigte sich "betrübt" über das Urteil der New Yorker Berufungsrichter. In einer Stellungnahme drückte die Behörde aber auch Zuversicht aus, dass Weinsteins Verurteilung in Kalifornien aufrechterhalten werde. Dann würde Weinstein die "schwerwiegenden Folgen seines beklagenswerten Verhaltens" tragen.
Bei dem Prozess in Los Angeles hatte eine Jury Weinstein im Dezember 2022 wegen Sexualverbrechen in drei Anklagepunkten, darunter Vergewaltigung, schuldig gesprochen. In einem Punkt wurde er freigesprochen, in drei weiteren Punkten gab es keine Einigung. Die Vorwürfe stammten von vier Frauen in einem Zeitraum von 2004 bis 2013. Unter den Klägerinnen war unter anderem Jennifer Siebel, die jetzige Ehefrau des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom. Die meisten Übergriffe sollen in Hotels in Beverly Hills stattgefunden haben. "Gerechtigkeit", schrieb Siebel nach der Strafmassverkündung bei Twitter. "Und noch mehr Arbeit vor uns."
Nach Angaben der "New York Times" muss nun Manhattans Bezirksstaatsanwalt Alvin Bragg entscheiden, ob er ein neues Verfahren gegen Weinstein einleitet. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagte gegenüber dem Magazin "The Daily Beast", man werde "alles in unserer Macht Stehende tun, um diesen Fall erneut zu verhandeln".
Neben Strafprozessen wird Weinstein auch mit Zivilklagen konfrontiert. Im vorigen Oktober reichte die britische Schauspielerin Julia Ormond (59, "Sabrina") wegen angeblicher Sexualverbrechen eine Klage in New York ein. Darin behauptet sie, Weinstein habe sie 1995 bei einem geschäftlichen Treffen belästigt und unter anderem zum Oralsex gezwungen. Die Klage richtet sich auch gegen die Walt Disney Company, Miramax und die Talentagentur Creative Artists Agency (CAA). Die Filmstudios und ihre Agenten bei CAA hätten damals von Weinsteins wiederholten Übergriffen auf Frauen gewusst, macht Ormond geltend. Sie hätten es aber versäumt, sie zu warnen und vor ihm zu schützen.
"Variety" zufolge sagte Ormond in einem Telefon-Interview, dass sie nun mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit trete, weil sie glaube, dass "systemischer Wandel" immer noch benötigt werde. Dazu müssten auch jene, die Fehlverhalten ermöglichen, zur Rechenschaft gezogen werden. In ihrer Klage verlangt die Schauspielerin Schadenersatz in nicht genannter Höhe.
Weltweit sahen Betroffene auch eigene Erlebnisse in denen der mutmasslichen Weinstein-Opfer reflektiert. Unter dem Schlagwort "Me too" ("Ich auch") fanden sie öffentlich Gehör - mit Folgen für weitere einflussreiche Leute, die angeprangert, gefeuert oder angeklagt wurden. Seit 2017 haben mehr als 80 Frauen Weinstein öffentlich sexuelle Übergriffe vorgeworfen.
Auch im Kino wurde der tiefe Fall des Produzenten aufgerollt. Im Herbst 2022 feiert das Filmdrama "She Said" von Maria Schrader ("Unorthodox") seine Weltpremiere. Die deutsche Regisseurin erzählte darin die Geschichte der "New York Times"-Reporterinnen Megan Twohey und Jodi Kantor, die 2017 nach schwierigen Recherchen ihre Weinstein-Enthüllungen zu Papier brachten. Der Film zeigt, wie die Reporterinnen eingeschüchterte Opfer treffen, Weinstein-Mitarbeiter aufsuchen, sich mit Anwälten anlegen, beschattet werden, und mit Vorgesetzten diskutieren, ob die Story veröffentlicht werden kann.