16 Stücke über Kreativität und Engagement
Béatrice Graf hat nach Jahrzehnten des Musikmachens und unzähligen Projekten mit "Chansons & More" ihr erstes Solo-Album überhaupt veröffentlicht.
Die Genfer Schlagzeugerin und Performerin Béatrice Graf ist seit über 30 Jahren international in den unterschiedlichsten kreativen Sparten tätig. Von Musik verschiedenster Stilistik über Theater, Multimedia-Kunst bis hin zu Tanz-Performances. Als Teil des Duos Ester Poly, zusammen mit Martina Berther, war Graf in den vergangenen Jahren zudem auf zahlreichen Festival- und Clubbühnen unterwegs. Für ihr Schaffen und Wirken wurde Béatrice Graf 2019 mit dem Schweizer Musikpreis des Bundesamt für Kultur ausgezeichnet.
Nebst der Musik ist es vor allem das soziale, politische und kulturelle Engagement, das ein Grossteil ihres Lebens ausmacht. So war Beatrice Graf beispielsweise schon mit Anfang 20 in kulturellen Vereinigungen tätig und engagiert sich bis heute in schweizweiten Kultur- und Musikverbänden. Weiter wohnt sie seit Jahren im "L’Ilôt 13" in Genf. Ein Wohnviertel mit teils historischen Gebäuden in der Nähe des Genfer Bahnhofs, das am Anfang der 80er-Jahre einem Bauprojekt weichen sollte. Ein Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten haben die Wohnanlage aber 1984 besetzt. Mit dabei war auch Béatrice Graf. Der Abriss des Quartiers konnte bis heute verhindert werden und der Quartierverein setzt sich bis heute aktiv für Fairness und gelungene Koexistenz ein.
Kreativität und Engagement sind auch zentrale Themen auf "Chansons & More". So der Titel des ersten Solo-Albums überhaupt von Béatrice Graf. 16 Stücke mit unterschiedlichen Strukturen, Stilen, Sounds und Stories, die nicht nur das kreative Spektrum von Graf aufzeigen, sondern auch ihren starken Charakter und ihre Überzeugungen zum Ausdruck bringen.
Valentin Brügger (RadioFr):
Das Album "Chansons & More" ist nach Jahrzehnten des Musikmachens und zig Veröffentlichungen mit Projekten das erste Solo-Album. Wie war es eigentlich, zum ersten Mal an einem Solo-Album zu arbeiten?
Béatrice Graf: Eigentlich war der Prozess ziemlich lang. Ich hatte viel zu viel Material und musste mich entscheiden, welche Stücke ich auf dem Album präsentieren möchte. Es hat wirklich Jahre gedauert, bis ich die richtige Playlist gefunden habe. Jetzt ist schlussendlich das Album raus und ich bin sehr glücklich mit dem Resultat. Ich freue mich auch über die vielen positiven Rückmeldungen.
Auf diesem Album erklingen neben perkussiven Elementen zusätzlich noch Saiten- und Tasteninstrumente sowie die Stimme. Wie hast du das Instrumentarium für das Album definiert?
Seit 20 Jahren übe ich draussen im Park mit so einem Kofferschlagzeug. Ein Objekt aus dem letzten Weltkrieg als Bassdrum sowie Dosen und alltägliche Gegenstände, die ich perkussiv benutze. Dazu kommen noch weitere Instrumente, wie etwa ein altes Bontempi, eine Art Kinderorgel, und ein kleines Marimba. Dazu kommt nocht die Stimme. Ich bilde zusammen mit Martina Berther seit zehn Jahren das Duo Ester Poly. Im Rahmen dieses Projekts habe ich eigentlich angefangen, meine Stimme einzubauen. Als letztes Element kommt dann noch die One-String-Gitarre dazu. Ich habe zwei solcher Gitarren vor fünf Jahren als Gage für ein Konzert gekriegt, das ich zusammen mit acht Gitarristen in Freiburg in der Bluefactory gespielt habe. Bernhard Zitz hat mich eingeladen, mit meinem Kofferschlagzeug diese Jam Session zu begleiten. Als Gage wollte ich eine von diesen Gitarren, die während eines Do-It-Yourself-Workshop am Nachmittag entstanden sind. Er hat mir dann zwei verschiedene Gitarren gegeben. Eine, mit einer Basssaite und eine andere mit einer Gitarrensaite, die ich nun während meinen Solo-Konzerten auf den Koffer lege und spiele. Durch dieses neue Instrumentarium bin ich also sozusagen auch noch Guitar-Hero geworden.
Ich habe gesehen, dass du viel draussen im Freien probst und weniger im muffigen Probekeller. Wie gestalten sich diese Proben in der Natur?
Wenn man draussen im Park ohne Bewilligung sein Instrument probt, gibt es einiges zu beachten. Man darf die anderen Leute nicht stören und es muss zu einem gewissen Grad musikalisch sein. Und da ich stundenlang draussen übe, habe ich statt eines richtigen Schlagzeugs ein Übungsinstrument aus Alltagsgegenständen geschaffen. So habe ich versucht, die Musikalität dieser Objekte zu suchen. Inzwischen ist sozusagen mein Übungsinstrument zu meinem Hauptinstrument geworden. Ich spiele natürlich auch weiterhin mein Schlagzeug, zum Beispiel mit Ester Poly, aber jetzt spiele ich auch immer mehr und mehr diesem Koffer-Schlagzeug. Das ist enorm praktisch. Der Koffer ist der Behälter der Instrumente und gleichzeitig die Bass-Drum und auch der Tisch für die One-String-Gitarre. So kann ich alles ohne Probleme mit dem ÖV transportieren. Das ist mir einerseits aus ökologischen Gründen wichtig, aber auch einfach, weil ich es liebe, mit dem ÖV zu fahren, anstatt im Auto zu sitzen.
Auf "Chansons & More" finden sich 16 Stücke, die viele verschiedene klangliche und kompositorische Elemente aufweisen. Wie sind die Stücke entstanden?
Das Album ist eigentlich ein Mix aus Stücken, die ich schon seit Jahren in meinem Solo-Konzert spiele, aber auch total freie Improvisationen, die ich 2022 während der Aufnahme-Session im Studio bei Domi Chansorn in Zürich aufgenommen habe. Die Improvisationen sind ab und zu 10 oder 15 Minuten lang. Und davon haben wir 2-3 Minuten aufgenommen. "Medina Style", "Run" oder "Orca" sind beispielsweise so entstanden. "Punk Prayer" wiederum ist ein Instrumentalstück, aber das hatte ich sozusagen komponiert.
Die Songs auf "Chansons & More" sind voller wichtiger Hinweise, Empörungen, mahnender Worte, Aufrufen, aber auch voller Leidenschaft, Humor und Ermutigung. Wie sind die Texte entstanden?
Die Texte sind meistens ziemlich schnell entstanden, aus einer Regung oder einer Empörung heraus. Einige sind auch relativ alt. Zum Beispiel das Stück "De prestige et d'eau fraîche", das die prekäre Lage von Musikerinnen thematisiert, habe ich bereits 2002 geschrieben. Oder "No Greenwashing" handelt von einem absurden Bauprojekt, dass man mit Spenden an eine Stiftung legitimieren wollte. Nach einem ärgerlichen Telefongespräch darüber habe ich "No Greenwashing" geschrieben. Sowieso, no pinkwashing, no any color washing, anymore.
Auf dem Album finden wir aber auch einige biografische Texte.
Ja, so etwa das Lied "La parfaite ménagère". Das hat ein bisschen mit meiner Kindheit zu tun. Ich wurde auf einem Bauernhof aufgezogen. Meine Mutter kommt eigentlich aus Lanzenhäusern bei Schwarzenburg. Und als Bauernkind muss man immer arbeiten, sobald man einen Besen in den Händen halten konnte. Als Teenager war ich ziemlich sauer. Währendem alle meine Freundinnen den Sommer im Schwimmbad verbrachten, musste ich zu Hause auf dem Bauernhof arbeiten. Aber dadurch habe ich gelernt, was es heisst, zu arbeiten. "La parfaite ménagère" erzählt ein bisschen davon. Auch "Alcool" hat mit meiner persönlichen Erfahrung zu tun. Mein Vater war Alkoholiker. Als ich zwölf Jahre alt war, starb er in Folge eines Arbeitsunfalls. Er war betrunken. Auch einige meiner Lovers und auch ehemalige Mitbewohner hatten ein Alkoholproblem. Momente mit Alkohol können super sein, aber es ist auch enorm gefährlich. Und klar, es ist nicht so ein sexy Thema, aber Leben ist auch nicht immer sexy. Für den sexy Teil gibt es Song wie "Beauté fatale". Diesen Satz hat mir irgendwann ein Mann gesagt.
Aus den Texten lässt sich vieles über deine Meinung in Erfahrung bringen, aber auch über dein sozialen und kulturelles Engagement. Gibt es irgendwelche Schnittmengen zwischen Aktivismus und der kreativen Expression?
In meinen Texten gehören Aktivismus und die kreative Expression zusammen. Aber auch rein musikalische Projekte können eine klare Aussage haben. Zum Beispiel das Projekt Cycloton. Dabei gehe ich mit anderen Musikerinnen und Musikern mit dem Velo auf Tournee. Der Strom für die Konzerte wird durch das Publikum ebenfalls mit Velos generiert. Solche Projekte finde ich sinnvoll und ich glaube, dass ich sehr sensibel dafür bin, wie sich die Gesellschaft entwickelt.
Ich möchte die Leute verstehen und suche die Diskussion. Zum Beispiel habe ich irgendwann gesehen, dass es auf einem sozialen Netzwerk eine Gruppe gibt, die «Antifeminismus» heisst. Ich wollte wissen, wer diese Menschen sind und was sie denken. Ich suche das Gespräch, die Diskussion, die Konfrontation. Wenn mich was stört, sage ich es. Es ist mir wichtig, dass ich meine Ideen mit meinen künstlerischen Tätigkeiten verbinden kann.