"Chile hat immer noch eine offene Wunde"

Der Murtner Rainer Menning lebt abwechslungsweise in der Schweiz und in Chile. Er berichtet über die Stimmungslage im südamerikanischen Land.

50 Jahre nach dem Militärputsch: Santiago bereitet sich auf den Jahrestag vor. © zvg / Rainer Menning
50 Jahre nach dem Militärputsch: Santiago bereitet sich auf den Jahrestag vor. © zvg / Rainer Menning
50 Jahre nach dem Militärputsch: Santiago bereitet sich auf den Jahrestag vor. © zvg / Rainer Menning
50 Jahre nach dem Militärputsch: Santiago bereitet sich auf den Jahrestag vor. © zvg / Rainer Menning
50 Jahre nach dem Militärputsch: Santiago bereitet sich auf den Jahrestag vor. © zvg / Rainer Menning
50 Jahre nach dem Militärputsch: Santiago bereitet sich auf den Jahrestag vor. © zvg / Rainer Menning
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Der 11. September wird landläufig mit den Anschlägen auf die Zwillingstürme in New York im 2001 in Verbindung gebracht. Knapp 30 Jahre zuvor kam es im südamerikanischen Land Chile quasi ebenfalls zu einem 9/11: Am 11. September 1973 putschte sich der General Augusto Pinochet mithilfe eines Militärcoups an die Macht und beendete somit abrupt die Regierungszeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Ein Eingriff, der bis heute Spuren in der chilenischen Seele hinterlassen hat. Im Gegensatz zum Nachkriegsdeutschland wurde in Chile nie eine richtige geschichtliche Aufarbeitung vollzogen.

Weder vergessen, noch verziehen

"Ni olvido, ni perdon!" heisst auf Spanisch: "Weder vergessen, noch verziehen!" Dieser Spruch wird auch heutzutage immer wieder auf die Hauswände geschmiert. Die Gesellschaft in Chile bleibt auch gut 30 Jahre nach dem Übergang zur Demokratie im 1990 tief gespalten. Auf der einen Seite sind die Verlierer der Geschichte, welche in den 70er Jahren an den Aufbau einer gerechten und solidarischen Welt glaubten und dann verschleppt oder getötet wurden oder ins Ausland flüchten mussten. Und auf der anderen Seite die kleine Schicht der "oberen Zehntausend", welche nach der Machtergreifung von Allende ihre Privilegien in Gefahr sahen und im Militärputsch die Rückkehr zur Ordnung sahen.

Es gibt kaum eine Familie, vor allem aus der Unterschicht, welche nicht in irgendeiner Weise vom Militärsturz betroffen ist. Entweder, weil ein Familienmitglied politisch aktiv war oder aber weil der Sohn zu dieser Zeit seinen Militärdienst leistete. An Familienfesten wird das Thema Politik weitgehend vermieden. Auch in Touristenführern wird empfohlen, das Thema Politik nicht anzuschneiden.

Der Putsch 1973

Um zu begreifen, wieso es zum Putsch im 1973 kam, muss man den geschichtlichen Zusammenhang sehen. In den 50er- und 60er-Jahren erreichte der Kalte Krieg eine heisse Phase. Es kam zu einem Wettrüsten im All, welche dem Anschein nach die Sowjetunion zu gewinnen schien. 1957 schickte die UdSSR erfolgreich den ersten Satelliten und die Hündin Laika ins All. Erst im 1969 - mit dem ersten Mann auf dem Mond - konnten die USA die Vormachtstellung der Sowjetunion brechen. Ein weiteres, viel tiefgreifenderes Ereignis erfolgte im 1959. In Kuba übernahm Fidel Castro die Führung und errichtete ein kommunistisches Regime.

Die USA befürchteten, dass sich die Drittweltländer an diesem Beispiel orientieren und nach Unabhängigkeit streben würden - die sogenannte Dominotheorie. Um diesem Verlauf vorzubeugen, intervenierte der US-amerikanische Geheimdienst CIA in verschiedenen Ländern in Südamerika und Afrika, so auch in Chile. Bereits vor den eigentlichen Wahlen im 1970 finanzierte die CIA zwei federführende Tageszeitungen in Chile, um Stimmungsmache gegen den sozialistischen Salvador Allende zu machen. Nach der Machtergreifung im 1970 bis zum Sturz im 1973 flossen Millionenbeträge nach Chile, um das Land zu destabilisieren und zum Umsturz zu führen.

Das Vermächtnis der Diktatur

Nach der Machtergreifung durch Augusto Pinochet am 11. September 1973 wurde sofort mit der Umgestaltung Chiles begonnen. Die sozialen Errungenschaften der vorangegangenen 20 Jahren wurden rückgängig gemacht. Das Gesundheits-, Renten- und Bildungssystem wurde nach neoliberalistischem Vorbild privatisiert. Die Chicago Boys, bestehend aus jungen Chilenen, welche an der Universität in den USA unter Milton Friedmann studierten, wälzten das politische und wirtschaftliche Gefüge Chiles vollständig um.

Das Verdienst dieser Umwälzungen ist, dass Chile heute wirtschaftlich sehr gut dasteht. Vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern Peru, Argentinien und Brasilien, welche regelmässig von grossen Inflationen betroffen sind, weist Chile seit Jahren ein stabiles Wirtschaftswachstum aus. Dies geschah jedoch jeweils auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung, welche im Prinzip ausgeblutet wurde.

Rückkehr zur Demokratie ab 1990

Im 1989 wurde in einem Referendum die Militärherrschaft von Augusto Pinochet abgesetzt. Der Übergang zur Demokratie erfolgte ohne Probleme. Befürchtungen, dass es in Chile zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, erwiesen sich als falsch. Überlieferungen zufolge flüsterte Pinochet seinem Nachfolger Patricio Aylwin bei der Amtsübergabe zu: "Wenn du das Militär anrührst, sind wir schnell wieder zurück."

Es folgten stabile Mitte-Links-Regierungen, welche den liberalen Kurs der Militärdiktatur weiterführten. Während zwanzig Jahren galt Chile als das Vorzeigebeispiel Südamerikas in Hinsicht auf politische und wirtschaftliche Stabilität.

Soziale Unruhen führten zu einem Kurswechsel

Bis im 2019 verhielt sich die chilenische Bevölkerung ruhig und hoffte, irgendwann vom liberalen Modell zu profitieren. Die Wende erfolgte im Oktober 2019, als die Regierung unter dem liberalen Präsidenten Sebastian Piñera die Preise für den öffentlichen Verkehr um 30 Pesos (rund ein Rappen) erhöhte. Die Schüler und Studenten rebellierten, besetzten Metrostationen und daraus entwickelte sich ein Volksaufstand. "Nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre neoliberale Unterdrückung!" war der Slogan der entrüsteten Bevölkerung, welche in regelmässigen Abständen ihren Unmut auf die Strasse brachte.

Am 25. Oktober 2019 waren 1,2 Millionen Chileninnen und Chilenen auf der Strasse. Piñeras Beliebheit sank auf ein historisches Minimum von sechs Prozent. Die Pandemie im März 2010 und die folgenden finanziellen Beiträge an die sozial schwachen Teile der Bevölkerung sicherten ihm den Fortbestand.

Bei den Wahlen 2021 gewann aber der ehemalige Studentenführer Gabriel Boric die Präsidentenwahlen. Der erst 37-jährige Boric gilt bei der breiten Bevölkerung als Hoffnungsträger.

Seit seinem Amtsantritt im März 2022 versucht Boric gemässigte Reformen durchzubringen, ohne zu stark in den liberalen Kurs seiner Vorgänger einzugreifen. Wichtigster Punkt auf der Agenda ist es die Verfassung, welche unter der Diktatur auf neoliberalen Kurs getrimmt wurde, wieder sozialverträglicher zu gestalten.

RadioFr. - Redaktion
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