"Es ist natürlich ein Höllenstress"
Deutschsprachige Jugendliche mit psychischen Problemen warten in Freiburg bis zu drei Monate auf eine Behandlung. Wo liegt das Problem?
«Es gibt einen Mangel an deutschsprachigen Therapieplätzen», bringt es eine Deutschfreiburger Betroffene, die anonym bleiben möchte, gegenüber Radio Freiburg auf den Punkt. Für deutschsprachige Jugendliche mit psychischen Problemen, welche nicht als akut selbst- oder fremdgefährdend beurteilt würden, gebe es Wartelisten von bis zu drei Monaten. Viele würden daher auf den Kanton Bern ausweichen – so auch sie. Nach wochenlangem Warten im Kanton Freiburg habe sie im Kanton Bern schon nach fünf Tagen auf einer Station eintreten können, und mehreren Betroffenen sei es genauso ergangen.
Keine genauen Zahlen
«Aktuell haben wir keine genauen Zahlen», sagt Stéphane Noël, Leiter des kantonalen Amts für Sonderpädagogik. Dies gelte insbesondere für jene Jugendlichen, die weiterhin ihrer Schulpflicht nachgehen könnten und dabei von Jugendpsychiatern oder Psychotherapeuten begleitet würden. «Wir sind nicht über alle Behandlungen im Bild», so Noël. Aber eine Arbeitsgruppe der kantonalen Gesundheitsdirektion sei dabei, eine entsprechende Gesamtschau zu eruieren; dies sei aber schwierig.
Genug Platz auf französischer Seite
Frankophone Schüler würden ab dem Alter von 13 Jahren in der psychiatrischen Station Chrysalide im stationären Behandlungszentrum in Marsens aufgenommen. Dies nützt den Deutschfreiburgern aber wenig. Denn wer in einer psychischen Krise steckt, muss sich in seiner Muttersprache gegenüber einer Vertrauensperson ausdrücken können. Immerhin könne man dank einer Vereinbarung mit dem Universitären Psychiatrischen Dienst UPD in Bern nun auch dessen Hilfe in Anspruch nehmen, sagt der Amtschef.
Bern hilft aus
Letztes Jahr wurden 15 minderjährige Patienten und Patientinnen aus dem Kanton Freiburg stationär in Bern aufgenommen. Sieben davon waren Notfallbehandlungen, geben die UPD auf Anfrage bekannt. Die Freiburger Patienten würden dabei genau gleich behandelt wie diejenigen aus dem Kanton Bern. Alle Betten stehen grundsätzlich allen zur Verfügung, unabhängig vom Wohnsitz - entschieden würde nach Dringlichkeit. Aber auch in Bern müssen Jugendliche in schwierigen Situationen meist mehrere Monate auf eine Behandlung warten bis ein Platz frei wird, jedoch nicht in Notfallsituationen.
Zurück nach Freiburg
Wartelisten habe es bei Kindern der Klassen 1H bis 8H bei der Tagesklinik nicht gegeben. Und für akute Notfälle mit Selbst- oder Fremdgefährdung werde selbstverständlich immer sofort eine Lösung gefunden – unabhängig vom Platzangebot. Da weiche man notfalls auch auf ein Spital aus. Aber was geschieht, wenn ein als nicht akut beurteilter Patient länger warten muss und sein Fall plötzlich akut wird, wie die betroffene junge Frau gegenüber Radio Freiburg bemerkt?
Für Deutschschweizer Jugendliche ist es schwieriger, einen Platz zu finden.
Auch Andreas Maag, Vorsteher des Amts für deutschsprachigen obligatorischen Unterricht, räumt ein: «Wenn man Bedarf hat, bekommt man nicht immer sofort einen Platz. Es ist natürlich ein Höllenstress für all diejenigen, die nicht sofort gut versorgt werden können.» François Piccand, Vorsteher des kantonalen Amts für Unterricht der Sekundarstufe II, gibt zu: «Für Deutschschweizer Jugendliche ist es schwieriger, einen Platz zu finden.»
Deutschsprachige Jugendpsychiater fehlen
Die Tagesklinik des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit (FNPG) in der Kantonshauptstadt bietet deutschsprachigen Jugendlichen insgesamt 15 Plätze für Kinder im Volksschulalter vom Kindergarten bis zum Ende der OS. Die fünf Plätze für OS-Schüler, die seit vergangenem August angeboten werden, sind belegt. Für Schülerinnen und Schüler mit einer Symptomatik aus dem Autismus-Spektrum oder anderen Entwicklungs- und Verhaltensschwierigkeiten gibt es ein Angebot im Guintzet bis zur Klasse 8H. Ab dem Schuljahr 2023/2024 gebe es auch ein ähnliches Angebot unter der Leitung des Schulheims Les Buissonnets für Schülerinnen und Schüler der Klassen 9H bis 11H ohne geistige Behinderung. «Es gibt – proportional gesehen – weniger deutschsprachige als frankophone Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten im Kanton», räumt Noël ein. Es sei sicher keine Absicht gewesen, beim FNPG nur Christian Jaeger als deutschsprachigen Kinder- und Jugendpsychiater zu haben. «Aber man muss entsprechende Kandidaten zuerst finden.»
Der Druck, dazuzugehören
Die Problematik der steigenden Anzahl an Jugendlichen mit psychischen Problemen ist ein Faktum – und dies nicht erst seit der Corona-Krise und dem Ukrainekrieg. «Ich glaube, dass dieser Prozess schon lange im Gange ist», sagt Patrick Schneuwly, Direktor der Orientierungsschule Kerzers. Zu den Ursachen hierfür zählt er den Gruppen- und Informationsdruck der sozialen Medien, den Druck, dazuzugehören, und auch die damit verbundenen Suchtfragen. Laut Stéphane Noël seien generell mehr Jungen als Mädchen von psychischen Problemen betroffen und mehr Adoleszente als Kinder im Primarschulalter. Eine Häufung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund lasse sich hingegen nicht ausmachen. «Psychische Probleme können jeden treffen.»
Regelschulen helfen sich selber
Und was macht man dann, wenn man keinen Platz findet? «Dann muss man als Regelschule eben das Beste aus der Situation machen», sagt Christian Ruppen, Direktor des Primarschulkreises Gurmels. Das geschehe in Netzgesprächen mit Eltern, Fachleuten und Lehrpersonen. «Psychische Probleme bei Schülern lassen sich meist nicht von heute auf morgen lösen», so Ruppen. Und vor allem nicht von den Lehrern alleine. «Wir sind Pädagogen und keine Psychologen», betont er. Und auch die Schulpsychologen seien oft komplett überlastet, wie Laurent Baeriswyl, Direktor der OS Düdingen, bestätigt. Und die Betroffenen? «Wenn man keine Lösung in Sicht hat, ist es schwierig, so weiterzumachen wie bisher», so die anonym bleibende Radio-Freiburg-Hörerin.