„Man traut sich immer mehr, über Gewalt zu sprechen“

Die Opferhilfezentren werden immer stärker in Anspruch genommen. Ein Interview mit Martine Lachat-Clerc, Direktorin des Frauenhauses Freiburg.

Martine Lachat-Clerc ist Direktorin vom Frauenhaus Freiburg. © RadioFr.

RadioFr.: Innerhalb von rund 20 Jahren, zwischen dem Jahr 2000 und 2022, hat sich die Zahl der Beratungen in den OHG-Zentren in der Schweiz verdreifacht, von 15'000 auf über 46'000 pro Jahr, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Und auch im Kanton Freiburg ist ein starker Anstieg zu verzeichnen. Im Jahr 2024 wird die OHG-Zentrale schätzungsweise mehr als 6'200 Mal kontaktiert werden, sei es für Telefonanrufe, Meldungen oder auch Beratungen, während im Jahr 2022 die 5'000er-Marke nicht überschritten wurde. Martine Lachat-Clerc, Sie sind die Direktorin von Solidarité Femmes Fribourg (Frauenhaus Freiburg), was sind diese OHG-Zentren?

Martine Lachat-Clerc: OHG ist die Abkürzung für das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten, kurz Opferhilfegesetz. Unter einer Straftat versteht man ein Verhalten, das durch das Strafgesetzbuch sanktioniert wird. Die Zentren sind also spezialisierte Dienste, die Opfern von Straftaten gegen die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität helfen. Zum Beispiel eine Vergewaltigung, eine Körperverletzung oder eine schwere Drohung.

Die Zahl der Konsultationen hat sich auf Schweizer Ebene in den letzten 20 Jahren verdreifacht. In diesem Jahr wird im Kanton ein starker Anstieg erwartet. Wie lässt sich diese Situation erklären?

Es gibt keine wirklich wissenschaftliche Erklärung, aber es wird immer mehr über Gewalt berichtet. Mit der Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Anm. d. Red.) wird das Thema immer weniger tabuisiert. Die Menschen wissen, dass es nicht normal ist, so etwas zu erleben, und wenden sich an spezialisierte Dienste, die ihnen helfen. Man hat nicht den Eindruck, dass es mehr Gewalt gibt als früher, man traut sich nur mehr, um Hilfe zu bitten.

Es wenden sich auch immer mehr Minderjährige an das Frauenhaus Freiburg. Wie werden sie betreut?

Die grosse Herausforderung besteht darin, die Mittel zu finden, um sie zu begleiten. Das OHG-Zentrum hat eine Psychologin, die sich um Notfälle kümmert und die Minderjährigen auch längerfristig betreuen kann. Aber was wir auch im Freiburger Netz feststellen, ist, dass die Psychotherapeuten im Allgemeinen sehr gefragt sind und es oft lange Wartezeiten für Kinder und Jugendliche gibt, die eine solche Behandlung benötigen. Und hier wäre die Herausforderung, endlich die Stellenprozente der Psychologen im zweiten OHG-Zentrum zu erhöhen.

Die Beratungsstelle für Frauen, deren Leiterin Sie sind, wird von Jahr zu Jahr immer stärker in Anspruch genommen. Wie macht sich diese Zunahme im Alltag bemerkbar?

Es ist eine tägliche Herausforderung. Man muss die Stellen neu besetzen und dafür sorgen, dass wir genügend Betreuerinnen haben. Manchmal, wenn wir feststellen, dass die Person nicht zu stark beeinträchtigt ist, können wir sie sehr schnell an Spezialisten weiterleiten. Wir werden weniger lange Betreuungen durchführen, wenn wir der Meinung sind, dass das Opfer gesprächsbereit ist. Außerdem besteht die grosse Herausforderung auch darin, die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten. Also ist die Teamatmosphäre, die Tatsache, dass man sich unter Kollegen gegenseitig helfen kann, ist etwas sehr Wichtiges, weil es seit mehreren Jahren keine Flaute, wie sie genannt wird, gegeben hat. Und für Leute, die im Aussendienst arbeiten, ist es doch ziemlich kompliziert, immer mehr als 100 Prozent ihrer Kapazität zu benötigen.

Beratungsstellen in Freiburg

Opferberatungsstelle für Kinder, Männer und Opfer des Strassenverkehrs

Boulevard de Pérolles 18A
1701 Fribourg                                                                                                                        026 305 15 80                                                                                                                Website

Frauenhaus Freiburg

Rue de Lausanne 91
1701 Freiburg                                                                                                                        026 322 22 02                                                                                                                Website

Weitere Telefonnummern:

Psychiatrische Notfälle: 026 308 08 08                                                            Ambulanz: 144                                                                                                              Polizei: 117

RadioFr. - Lauriane Schott / pn
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