"Das ist das Unglaubliche an Musik"

Noémi Büchi vertont mit Matter die wundersame Wandlung von Materie durch Klang, Gefühl und Zeit.

Mit "Matter" präsentiert Noémi Büchi ihr bisher bemerkenswertestes und persönlichstes Werk. © Nicholas Schärer

Auf Matter veranschaulicht Noémi Büchi ihre sehr ausführliche und akribische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Materie. Die acht Stücke auf dem Album werden durch eine sehr elaborierte Komposition und eine hohe emotionale Komposition zu einem grossartigen Werk vereint. Obwohl schon die EP Hyle als leuchtender Vorbote eine spannende Folgeveröffentlichung erahnen liess, ist Büchi mit Matter ein bemerkenswerter und äusserst touchierender Wurf gelungen. Ein Ergründungsversuch:

Valentin Brügger: Kannst du uns vom Arbeitsprozess erzählen? Wann warst du dir bewusst, dass du an einem Album arbeitest?  

Noémi Büchi: Es gibt verschiedene Arten von Zeit und Timing in einem solchen kompositorischen Prozess. Das Timing der Materialsammlung und –herstellung ist sicher ein Hauptpunkt, wobei es unmöglich ist zu benennen, wie viel Zeit das in Anspruch genommen hat. Dieser Prozess hat vielleicht bereits in der Kindheit begonnen. Jetzt für Matter habe ich in den letzten zwei-drei Jahren Material produziert und kreiert, was sicher die längste Timeline der Komposition ausmacht. Aber die konkrete Komposition der einzelnen Stücke auf Matter hat etwas mehr als einen Monat in Anspruch genommen. Punkto der Frage, wann eines meiner Stücke genau fertig ist, ist eine relativ schwierige Frage. Für den Openertrack „Elemental Fear“ hatte ich beispielsweise bereits im Vorfeld eine klare Vorstellung der Struktur und wusste, welches Material den Anfang und den Schluss des Tracks bilden wird. Bei anderen Tracks wiederum, ist es etwas schwieriger zu wissen, ob das Stück nun ausgereift ist. Die Ansprüche an sich selbst sind eh immer höher, als das momentane Können, was Künstler*innen ja auch weiterbringt. Aber es ist wichtig, im kompositorischen Prozess auch abschliessen zu können und zu zeigen, was den aktuellen Fähigkeiten entspricht.

Fokussieren wir uns darauf, wie das Album wirkt. Gleich zu Beginn wird mit „Elemental Fear“ klar, dass das Album enorm mit Räumlichkeit, Distanz, Tiefe oder Klangarchitektur per se spielt.

Einerseits ist der erste Schritt einer solchen Raumgestaltung der kompositorische Aspekt, also wie die Instrumente gewählt werden. Ich behandle meine Klänge wie Instrumente in einem Orchester, die alle eine gewisse Funktion oder gewisse Stimme mit eigener Charakteristik haben. Das heisst, es besteht ein Zusammenspiel der Klänge, die alle einen bestimmten Platz im Raum einnehmen. Der Mix ist der zweite Schritt, wobei die Raumwirkung des Klangs noch feiner gestaltet werden kann. Dabei hat mir Manuel Oberholzer (Feldermelder) geholfen, der mich beispielsweise darauf hingewiesen hat, den Sounds und Stimmen genügend Raum zu lassen. Trotz der Dichte haben alle Klangelemente ausreichend Platz im Ganzen.

Spannender Punkt. Das Album hat bei mir persönlich effektiv ein Bild eines Orchesters evoziert. Ein Ensemble, welches aber nicht vor mir auf der Bühne spielt, sondern um mich herum und bis zur Decke zig-fach und maximal überlagert wird. Ein starkes Gefühl einer Dreidimensionalität des Sounds.

Ja, das Ziel, ein Gefühl eines Raumes voller Orchester zu vermitteln, ist etwas anders, als das Ziel, den Lautsprechern die Rolle der Instrumente zuzuordnen, was oftmals in der elektroakustischen Musik angestrebt wird. Multi-Channel-Kreationen können intensive Hörerfahrungen ergeben, wobei Räume entstehen, die das Individuum komplett einnehmen. Die Impression eines Orchesters entsteht sicherlich auch wegen der gewählten Sounds, die klangästhetisch solche Instrumente nachahmen, ohne es wirklich zu sein. Die Möglichkeit dieses nexts steps, die dimensionale Erweiterung der Instrumentalmusik, ist ja auch das Magische der elektronischen Musik.

Nach der physikalischen Lehre transportieren Schallwellen Informationen und Energie. Im Begleittext zu Matter steht, dass Schallwellen auch Materie übermitteln können. Bei unserem letzten Gespräch hast du erklärt, dass hierbei die ephemere, vergängliche Materie gemeint ist, die unser Verstand während dem Hören an unser inneres Auge projiziert. Aber wer formt diese mentale Materie?

Interessante Frage. Ich denke sowohl die Zuhörenden, als auch diejenigen, die Musik kreieren. Ich sehe mich als Künstlerin, die ähnlich wie eine Malerin, mit Materie arbeitet. Luft ist Teil unserer materiellen Welt, auch wenn das kaum wahrgenommen wird. Wenn ich mit Klang arbeite, habe ich ganz klar das Gefühl, das ich mit Material arbeite, die ich zwar höre, aber nicht fassen kann. Die Klänge sind da, ich forme sie, ich transformiere sie etc. Mein Gefühl, mit Material zu arbeiten, ist sehr stark vorhanden. Und wie du sagst, die Materie ist während dem Hören da und plötzlich weg. Ich hoffe, dass ich durch meine Musik diese Materialität vermitteln kann. Als wäre während des Hörens etwas im Raum, etwas um die Zuhörenden herum. Was für innere Bilder oder Emotionen die Musik evoziert, ist natürlich individuell.

Spannende Unterscheidung: „matter in space“ versus „matter in mind“, wobei die durch Musik erschaffene Materie im Hörmoment geformt wird und sich wieder auflöst.

Was aber in der Musik unglaublich stark ist, ist das Verweilen im Gedächtnis. Musik ist eine sehr erinnerungsbasierte Kunstform. Auch wenn man etwas Neues hört, kann Musik bestimmte Erinnerungen hervorrufen. Vielleicht ähnlich wie Gerüche, die urplötzlich Erinnerungen und Szenen aus der Kindheit hervorrufen. Musik kann in die tiefsten Regionen unseres Unterbewusstseins vordringen.

Es gibt diesen Dokumentarfilm „Alive Inside: A Story of Music and Memory“, der zeigt, wie Musik Alzheimer-Patienten hilft, Erinnerungen wachzurufen. Abwesend wirkende Patienten erwachen nach dem Hören ihrer früheren Lieblingsmusik scheinbar für kurze Zeit und berichten von verloren geglaubten Erinnerungen. Beeindruckend wie Musik eine Brücke zwischen nicht mehr miteinander kommunizierenden Hirnregionen bauen kann oder wie Musik eine Verbindung vom Inneren zum Äusseren schaffen kann.

Ja, das ist unglaublich. Eben diese Kraft der Musik spüre ich auch als Musikmacherin. Das ist auch ein Hauptgrund dafür, wieso ich in meinem Leben in diese Richtung gegangen bin und diese Materie gewählt habe.

Dein Album spielt nebst der Materie auch mit der Thematik Zeit. Einerseits musikalisch durch das Referenzieren auf spätromantische Komponisten wie Mahler oder Skrjabin und andererseits visuell durch Körperbewegungen auf veränderter Zeitachse in Videos. Warum dieses Spiel mit der Zeit?

Auch hier ist die Manipulation spannend, die ein intensives Gefühl hervorrufen kann. Sowohl bei den Rezipienten, als auch bei mir persönlich während meinem Arbeitsprozess. Musik ist eine Kunst der Zeit. Ich habe vor Matter auch viel Drone-Musik gemacht, in welcher viel mit Repetitionen und Sustain-Tones gearbeitet wird. Durch intensives Hören werden auf Zeit die minimalen Veränderungen erkennbar, was beinahe ein Gefühl von Unendlichkeit generiert. Zeit scheint fast abwesend zu sein.

Vielleicht auch die Wichtigkeit von Zeit in der Komposition? Wieviel Raum du der Zeit zwischen den Klängen und musikalischen Momenten gewährt hast?

Ja, genau. Es war auch mein persönliches Ziel, hier bestimmte Akzente zu setzen. In der elektronischen Musik hat man meiner Ansicht nach oft die Tendenz, den gesamten verfügbaren Klangraum zu füllen. Aber konkrete Pausen mit einigen stillen Sekunden können eine enorme Kraft entfalten. Beispielsweise am Anfang des Stücks „Elemental Fear“ folgt auf einen wuchtigen Klang ein bewusster Schnitt mit einem kurzen Moment der Stille. Eine in der klassischen Musik gängige Methode, wobei Pausen und Noten ähnliche Werte haben. Das war für dieses Album sehr wichtig.

Wir haben bereits über Stoff und Form von Materie gesprochen, aber interessant wäre auch die Frage nach der Emotionalität, welche Materie in deinem Verständnis haben oder vermitteln kann. Mit welchen Gefühlen ist diese ephemere Materie des Albums gespeist?

Das Album hat einen etwas versteckten emotionalen Hintergrund. Die Track-Titel referieren ziemlich stark auf einen mentalen Prozess, den ich persönlich während dem Komponieren durchgemacht habe und an dessen Ende ich die Erfahrung als befreiend empfunden habe. Die Titel beschreiben die verschiedenen Phasen einer Traumaverarbeitung. „Elemental Fear“ bezieht sich auf diese fast unerklärlich grundlegende Angst nach einer traumatischen Erfahrung oder „Measuring All Possibilities“ ist die Suche nach Ausgangsmöglichkeiten etc., was natürlich von jedem Individuum anders interpretiert werden kann. Jedenfalls tat mir die Komposition dieser Stücke mit diesen Titeln sehr gut.

Nach mehrmaligem Hören der Stücke habe ich dieses klare Bild vor Augen, als würdest du mit dem Album ein ephemeres Gegenüber erschaffen, welches du mit all deinen Emotionen und Erfahrungen nährst, um dich während des flüchtigen Moments dieses Albums selbst zu betrachten. Inwiefern ist das letzten Stück „Prelude For Rational Freshness“ ein neuer Ausgangspunkt?

Ja, ich habe den Track mit dem intensiven Schlusspart sehr bewusst an das Ende des Albums gesetzt. Es ist das längste Stück und auch sehr klassisch strukturiert. Durch das abrupte Ende wähnt man sich immer noch in dieser Intensität und meint noch Klänge wahrzunehmen. Alles was nach diesem letzten Schnitt klingt, ist aber nur innerhalb des eigenen Körpers.

Wie zufrieden bist du mit diesem Album?

Meine Verbindung zu diesem Album ist sehr stark. Ich habe auch das Gefühl, dass diese Musik nach mir klingt. Mein Label -OUS hat mich dabei auch sehr unterstützt und mich dazu ermutigt, meine eigene Stimme zu finden und diese auch auszudrücken. Aber es ist sicherlich kein vollendetes Werk, aber vollendet für jetzt, für diesen Moment meines Entwicklungsprozesses.  

Matter also ein Album, das nach der jetzigen Version von dir klingt?

Genau, das kann man so sagen.

Matter von Noémi Büchi ist auf dem Label –OUS erschienen.

RadioFr. - Valentin Brügger
...