"Es ist cool, zu merken, den Impulsen vertrauen zu können"

Anne Tu Quoc hat ein Unternehmen, zwei Kinder, ein Haus, einen Garten und 1000 Projekte. Ein Blick hinter die Kulissen ihrer kreativen Welt.

Vollgas zwischen eigenem Unternehmen, Mamisein, Hausrenovation, Garten und vielen Ideen jeden Tag. © Frapp

Vergesst die gängigen Klischees über Kreativität– in unserer Interview-Serie geht es um coole Köpfe aus verschiedenen kreativen Sphären, die ihre Leidenschaft über Normen stellen. Wir stellen euch wahre Visionärinnen und Visionäre vor, deren Herz für das Unkonventionelle schlägt. Heute mit:

Anne Tu Quoc

Designerin / 43 Jahre / aus Rechthalten / @petitmaimagic @ourhouseofdisco

Unter ihrem eigenen Label Petit Mai produziert und verkauft Anne Tu Quoc seit 2010 fair produzierte Accessoires wie Baby-Mokassins, Taschen und Schlüsselanhänger. Im letzten Jahr hat sie mit ihrem Mann ein Haus gekauft und Schritt für Schritt selbst renoviert. Die zweifache Mutter spricht offen über ihren Werdegang, Stolpersteine und ihre psychische Gesundheit.

Vom Gastgewerbe zur erfolgreichen Unternehmerin

Nadina Schneuwly, RadioFr. und Frapp: Wie ist die Idee für Petit Mai entstanden?

Anne Tu Quoc: Ich habe die Hotelfachschule in Zürich gemacht. Dann habe ich recht lange im Gastgewerbe in Zürich gearbeitet - und war eine Wintersaison in Arosa. Dort habe ich in meiner Freizeit eine Mütze für mich gestrickt.

Am Ende der Saison trug gefühlt das ganze Dorf eine Mütze von mir.

Da habe ich gedacht, let's do it, jetzt stricke ich Mützen. Zurück in Zürich habe ich mich eingerichtet und Mützen gestrickt. Das war mein erster Schritt in die Selbstständigkeit. Das Label hiess damals Mai. Petit Mai ist 2010 entstanden, als ich Kinder bekam und anfing, Kindersachen zu machen.

Instagram @petitmaimagic

Wolltest du immer schon Unternehmerin sein?

Das habe ich alles nicht so geplant. Es hat sich so entwickelt und ergeben. Ich habe einfach etwas gefunden, das mir Spass macht. Dann habe ich gedacht, ich probiere es mal.

Wie lange hat es gedauert, bis du davon leben konntest?

Als ich mit den Mützen angefangen habe, konnte ich relativ schnell davon leben. Ich war ja auch alleine, hatte keine Kinder. Eine Zeit lang habe ich noch einen Tag pro Woche im Gastgewerbe gearbeitet, aber grösstenteils habe ich nur noch gestrickt.

Was gefällt dir am meisten und was am wenigsten an deinem Leben als Unternehmerin?

Am meisten "fägt", dass ich machen kann, was ich will (lacht). Und dass ich von heute auf morgen entscheiden kann, etwas anders, neu oder nicht mehr zu machen. Und dass mir niemand sagt, wann ich hier sein oder gehen muss.

Es ist eine riesengrosse Freiheit. Aber dazu halt auch der ganze Druck.

Wenn du selber nichts machst, dann passiert einfach nichts. Auch beispielsweise in den Ferien. Wenn du weg bist von deinen sozialen Medienkanälen, dann bricht der Umsatz voll ein. Du musst dir gut überlegen, wann du einen Stillstand machst - und wie du ihn aufholst. Das ist ein Ständig-Dran-Sein.

Gab es einen Moment, in dem du aufgeben wolltest?

Ja, x-mal. Vor noch gar nicht so langem habe ich mir überlegt, ob ich nicht aufhören will und mich irgendwo anstellen lassen. Der Druck ist schon immer da. Und manchmal, wenn es schwierig ist im Geschäft, denke ich mir, dass es einfacher wäre, irgendwo angestellt zu sein - aber es macht halt auch weniger Spass (lacht).

Kreativität ist nicht wirklich greifbar, aber spielt eine wichtige Rolle in deiner Arbeit. Wie bleibst du inspiriert?

Ich kann es nicht richtig erklären: Rntweder hat man das oder nicht. Klar gibt es gewisse Faktoren: Wenn es mir gut geht, wenn ich entspannt bin, dann rattert es viel einfacher und fliesst viel mehr.

Grundsätzlich habe ich jeden Tag 100 Ideen.

Die Ideen sind einfach da, die kommen einfach. Ich sehe ein Bild, dann laufe ich durch die Stadt, sehe etwas und dann setzt sich das so zusammen in meinem Kopf. Das kann man nicht erklären.

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Wie entscheidest du, welchen Ideen du nachgehst und welchen nicht?

Die einen fesseln mich und bleiben einfach, die anderen sind für später. Ich habe in meinem Kopf eine riesige Bibliothek mit 1'000 Ideen in 100'000 Schubladen. Ich kann nicht alles machen und muss für mich selektionieren: Wofür habe ich die Zeit? Was ist am dringendsten? Was mache ich am liebsten?

Du hast mit deinem Partner vor zwei Jahren ein Haus auf dem Land gekauft und renoviert. Wie hat sich dieses Projekt auf dein Leben ausgewirkt?

Das hat vor allem sehr viel Spass gemacht. Ich habe noch nie gedacht, dass ich selber ein Haus renoviere und dass es in diesem Ausmass so passiert. Es war ein neues kreatives Feld, das sich aufgetan hat.

Gab es bei der Renovierung eine bestimmte Situation oder Herausforderung, die besonders in Erinnerung geblieben ist?

Besonders geblieben ist mir, dass ich den Inputs, die von innen kommen, vertrauen kann. Das ist mein Bauchgefühl. Am Anfang hatte ich eine Idee, dann tausend weitere - und habe diese durchgeprobt, weil ich dachte, dass ich nicht einfach der ersten Idee nachgehen kann. Am Schluss war ich jeweils wieder bei der Anfangsidee und habe den ganzen Umweg sein lassen können.

Es war cool, zu merken, dass ich den Impulsen voll vertrauen kann.

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Du versuchst, euch durch das Jahr hindurch mit dem eigenen Garten selbst zu versorgen. Welche Erfahrungen hast du dabei gemacht? Hast du etwas Bestimmtes angebaut, das dir besondere Freude bereitet hat?

Gemüse allgemein. Ich bin Vegetarierin und esse schon ewig kein Fleisch mehr. Gemüse habe ich mega gern. Als wir das Haus gekauft haben, habe ich zuerst Gartenbeete installiert, bevor wir wussten, was wir hier machen.

Dann habe ich angefangen zu gärtnern. Das ist eine Kreativbombe!

Da konnte ich mich voll austoben: Welche Blumen pflanze ich mit welchem Gemüse? Dazu noch etwas, was schön aussieht, etwas Wildes.

Ich habe schon im ersten Jahr eine Art Dschungel gezüchtet und wir hatten hier viel Gemüse und mussten gar nicht mehr Gemüse einkaufen. "As het gfägt!"

Balanceakt zwischen Kindern und Karriere

Du hast zwei Kinder im Alter von 9 und 13 Jahren. Wie hast du es geschafft, deine beruflichen und persönlichen Verpflichtungen in Einklang zu bringen?

Keine Ahnung, gar nicht (lacht). Es ist mega schwierig. Bisher hat es sich so ergeben. Als wir Kinder bekamen, war ich selbstständig und Marc war jobbedingt die ganze Zeit unterwegs. Es war klar, dass er nicht weniger arbeiten können würde. Ich habe in meiner Selbstständigkeit immer mehr abgegeben.

Ich bin dann in dieses klassische Muster rein gefallen, das ich gar nie wollte.

Ich hatte die Kinder und habe meine Selbstständigkeit beibehalten und versucht, das zu jonglieren. Aber es ist schon ein Riesenakt, es ist schwierig.

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Dass man mit guter Organisation alles unter einen Hut bringt, stimmt einfach nicht. Ich habe versucht, gut zu organisieren, aber ich habe überhaupt nichts unter einen Hut gebracht.

Irgendetwas hat immer gelitten: die Kinder, das Geschäft - und hauptsächlich ich, dass ich zu wenig gut zu mir geschaut habe.

Wie hat sich das gezeigt?

Stress! Ich bin auf der Kante geschlittert, wie wenn man über einen Grat wandert. Links und rechts gehts steil runter und du hältst dich irgendwie da oben. Immer ein bisschen am Balancieren. Ich habe das Gefühl, mein Leben hat sich ganz lange so angefühlt.

Hattest du dieses Gefühl schon in dem Moment oder erst rückblickend?

Rückblickend ist es völlig klar, und in diesem Moment war es ständig eine Überforderung.

Was planst du für dein neues Leben «nach» den Kindern?

Ich sehe für mich jetzt die Möglichkeit, etwas ganz anderes zu machen. Das mit meiner Selbstständigkeit war natürlich auch sehr praktisch. Ich arbeitete zu Hause, hatte ein separates Atelier, und war da, wenn die Kinder nach der Schule nach Hause kamen. Andererseits war ich eingesperrt in diesem kleinen Kosmos.

Ich merke, dass ich dort ausbrechen muss. Die Kinder brauchen mich nicht mehr so. Ich muss unter die Leute.

Auch meine Kreativität entfaltet sich viel mehr, wenn ich rausgehe, mit Leuten spreche und Dinge sehe, als wenn ich in meinen vier Wänden bin. Das ist schon etwas erdrückend.

Hast du konkrete Pläne?

Ich habe viele Pläne (lacht), aber es ist noch nicht alles ganz spruchreif. Ich habe mit einer Freundin einen Hotdog-Stand am Lac Noir Festival im Schwarzsee gemacht, wo mein Mann in der Organisation dabei ist. Es hat mega Spass gemacht. Ausbrechen aus dem, was man sonst macht. Es entwickelt sich weiter, ohne dass wir es planen wollten.

Wir haben einen zweiten Event gemacht am Murtenlauf und bekommen nun schon private Anfragen. Jetzt, wo wir die ganze Vorarbeit gemacht haben, machen wir noch Hotdogs (lacht). Ich glaube aber nicht, dass wir das hauptberuflich machen wollen. Es gibt im Moment in meinem Leben ein paar Richtungen, die gerade einen Lauf nehmen. Ich weiss noch nicht genau, wohin es geht, aber es ist viel am Machen und Tun. Ich glaube, es wird schon eine Veränderung geben in der nächsten Zeit.

Gibt es eine bestimmte Erkenntnis, die du aus den Erfahrungen ziehen konntest?

Ich glaube, das mit der Intuition, zu träumen.

Wenn dir etwas wirklich Spass macht, dann go for it

Oder auch, wenn dich etwas kitzelt und nervös macht und du dich fragst, ob du das kannst oder ob du dir das zutraust. Mach es einfach! Das ist genau das, was du machen musst, damit du nicht stehen bleibst.

Wenn du zurückblickst, was hat dir geholfen in deinem Dasein als Unternehmerin?

Irgendwann haben mir andere Frauen geholfen.

Ich habe gemerkt, dass es viele Frauen gibt, die in der gleichen Situation sind, mit Unternehmertum und Mutterschaft.

Als Unternehmerin, wenn du so startest wie ich, musst du plötzlich viele Sachen können, die du gar nicht gelernt hast. Ich habe auch ein kleines Netzwerk gegründet, wo wir uns regelmässig treffen, online oder auch in echt. Wir sind immer noch rege in Austausch. Unter Frauen finde ich das besonders stark, wenn man sich unterstützt, einander unter die Arme greift, ohne Vorurteile, ohne Neid. Das ist mega cool, dass es das unter Unternehmerinnen gibt.

Das sagt Anne Tu Quoc zu …

Verkaufen: lieber online oder offline? Offline.

Kaufen: lieber online oder offline? Beides. Online geht schneller, aber das Erlebnis geht verloren.

Secondhand? Unbedingt!

Trends vs. zeitlose Eleganz? Pff, was mir passt. Egal. Beides.

Tiermuster-Trends? Nicht unbedingt.

Kundenwünsche? Ich gehe gerne darauf ein. Aber manchmal ist es schwierig (lacht).

Influencer-Kollaborationen? Oh mein Gott!

Garten- oder Innenraumdesign? Ganz schwierig. Beides, unbedingt!

Hausarbeit? Bähhh...

Zero-Waste-Bewegung? Da wir ich eine zeitlang voll drin. Aber mit Job und allem schwierig, voll umzusetzen.

Aktivismus? Ja!

Bildschirmzeit? Horror!

Work-Life-Balance? Da werde ich immer besser.

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RadioFr. / Frapp - Nadina Schneuwly
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