"Ich erobere mein Leben zurück"

Agathe hat zehn Jahre lang Gewalt erlitten, bevor sie im LAVI-Zentrum in Freiburg Zuflucht gefunden hat. Doch die Frauenhäuser stehen unter Druck.

In der Schweiz wird 1 von 5 Frauen mindestens einmal in ihrem Leben Opfer häuslicher Gewalt. © Keystone

Agathe* hat über zehn Jahre lang unter der Gewalt ihres Ex-Partners gelitten. Der Mann sitzt derzeit in Haft und wartet auf seinen Prozess. Agathe kann also noch nicht mit offener Stimme und offenem Gesicht über ihre Geschichte sprechen.

Wenn ich noch einmal aussagen muss, und dieses Mal nicht anonym, werde ich es tun!

Es ist die Geschichte einer Frau, die vor ihren Kollegen eine gute Figur macht, sich um ihre beiden Kinder aus erster Ehe kümmert, während sie täglich Schläge, Beleidigungen und Demütigungen erleidet, sobald sie aus der Haustür tritt. Sie ist diejenige, die den Haushalt führt, ihr Mann arbeitet nicht. Er hält sie trotzdem unter seiner Kontrolle, indem er ihr jeden Kontakt und jeden Ausgang verbietet, ausser zur Arbeit zu gehen. "Das Wort "Sklavin" klingt zu hart, aber es war wirklich so", betont die junge Frau.

"Ich habe nie jemanden so sehr gehasst"

Agathe versucht, ihren Peiniger 2019 ein erstes Mal zu verlassen. Sie erstattet sogar Anzeige, bevor sie das gemeinsame Leben wieder aufnimmt, weil er es schafft, sie zu überzeugen, und weil sie ihn immer noch liebt.

Doch in den letzten beiden Jahren des Zusammenlebens ändern sich Agathes Gefühle, die von so viel Brutalität zermürbt wurden. "Ich habe noch nie jemanden so sehr gehasst", erklärt sie. Doch sie erlebt noch viele weitere Monate der Gewalt, bevor sie die Kraft findet, ihn zu verlassen.

Vor etwas mehr als einem Jahr macht es endlich Klick. Ihr Ex-Partner droht ihr wieder einmal mit den schlimmsten Schrecken. Doch die Freiburgerin befürchtet, dass sie dabei ihr Leben verlieren könnte. In Panik wirft sie das Nötigste, ihre Toilettenartikel und einige Kleidungsstücke in eine Tasche und ruft beim Freiburger Frauenhaus Centre LAVI an, mit dem sie bereits Kontakt hatte. Eine Sozialarbeiterin antwortet ihr und findet die richtigen Worte, um sie zu beruhigen und ihr Sicherheit zu geben. "Sie ist mein Schutzengel", sagt Agathe heute, die danach zweieinhalb Monate im Frauenhaus verbringt.

Die junge Frau beginnt ihren Wiederaufbau, umgeben von einem wohlwollenden Team. Sie lernt andere Opfer kennen, die sie verstehen, ohne sie zu verurteilen. "Ich habe dort eine Frau kennengelernt, ein Jahr später sind wir immer noch Freundinnen."

Anfragen gehen durch die Decke

Das Centre LAVI ist die einzige professionelle Einrichtung im Kanton Freiburg, die sich der Aufnahme von Opfern häuslicher Gewalt widmet. Es verfügt über 6 Zimmer mit 12 Plätzen. Und ein siebtes Zimmer nur für Notfälle. Seit zwei Jahren wird das Zimmer jedoch wie die anderen Zimmer ständig genutzt. Die Auslastung des Zentrums liegt bei 90 Prozent, gegenüber durchschnittlichen 80 Prozent bei anderen Einrichtungen in der Schweiz.

Die Anfragen sind unmittelbar nach der Covid-Pandemie, die gleichbedeutend mit Eingrenzung und damit doppelter Gewalt ist, explosionsartig anstiegen. Vielleicht gab es "einen Nachholeffekt", vermutet die Leiterin des Heims, Martine Lachat Clerc.

Immer mehr junge Frauen in den Zwanzigern finden hier Zuflucht, aber auch mehr Senioren, denen erst spät bewusst wird, dass ihre Situation unzumutbar ist, so Lachat Clerc.

Es fehlt ein echter politischer Wille seitens des Parlaments und des Staatsrats.

Das Opferhilfezentrum arbeitet daher sehr kurzfristig und hat nicht genügend Personal. Um seine Bewohnerinnen und Bewohner angemessen zu betreuen, müsste das Centre LAVI zwei zusätzliche Vollzeitäquivalente beschäftigen.

Die für diese Fragen zuständigen kantonalen Stellen sind sich zwar bewusst, dass die Situation nicht zufriedenstellend ist, aber "es fehlt ein echter politischer Wille seitens des Parlaments und des Staatsrats", so Martine Lachat Clerc. Sie weist darauf hin, dass in den letzten Jahren viel gegen die Täter getan wurde, was eine sehr gute Sache ist. Aber nicht genug für die Opfer.

Ein langer Weg zur Freiheit

Agathe hingegen hat noch einen weiten Weg vor sich. Der gerichtliche Teil ihres Falles ist noch nicht abgeschlossen. Sie hofft auch, dass sie ihre Kinder wiederbekommt, für die sie aufgrund ihrer Situation schliesslich das Sorgerecht verloren hat.

Ich erobere mir mein Leben Stück für Stück zurück.

Aber sie geniesst bereits ihre wiedergewonnene Freiheit: "ganz dumme Dinge" zu tun, wie zu essen, was sie will, zu gehen, wohin und wann sie will, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. 

RadioFr. - Sarah Camporini / vdn
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